Corie Emm

LESEPROBE AUS

DIE PLATTENBOSSIN: Ist das Kunst oder kann das in die Charts?

Roman


Kapitel 1

Der Polizeiwagen pflügte sich seinen Weg durch die aufgebrachte Meute. Menschen schrien und schlugen gegen die Scheibe, ihre Handflächen klatschten grob gegen das Glas, manche rüttelten an der Tür und versuchten, sie zu öffnen. Der Mob tobte, johlte und schrie immer wieder meinen Namen.

Ich duckte mich und drückte das Gesicht seitlich in die Sitze der Rückbank, jedenfalls so weit die verfickten Handschellen in meinem Kreuz es gestatteten. Es stank nach Fisch und Kotze. Meiner Kotze.

„Verdammt, fahren Sie doch schneller!“, nuschelte ich. Meine angeschwollenen Lippen schmerzten.

„Na, na, na“, maßregelte der Bulle mit dem Bürstenhaarschnitt, „den Ball ma janz flach halten. So kannste mit deinem Chauffeur reden, nich mit uns.“

„Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?“, keifte ich.

„Nu ma ruhig, Fräuleinchen. Is dir überhaupt klar, in welcher Lage du dich grade befindest?“

Die Lage wurde mir klarer, je nüchterner ich wurde. Leider! Was zur Hölle war in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert? Ich hatte das Leben einer jungen Frau ruiniert, mich vor den Augen von Millionen Menschen bis auf die Knochen blamiert und wurde on top gerade als Verbrecherin abgeführt. Meine Karriere, alles, was ich mir in den letzten dreißig Jahren mühsam aufgebaut hatte, hing plötzlich an einem seidenen Faden. Und der lag nun in den Händen zweier feister, grobschlächtiger Bullen, die altersmäßig meine Söhne hätten sein können.

Ich stöhnte und grub das Gesicht in den Bezug der Sitzbank.

Gestern hatte ich noch gut gelaunt an meinem Schreibtisch gesessen und mich auf das erste freie Wochenende seit Monaten gefreut – bis die Tür aufgeflogen war und mein Kollege seine minderbemittelte Visage hineingeschoben hatte. Hannes! Dieser Vollidiot. Ich ballte die Fäuste auf meinem Rücken. Genau. Mit dem hatte die ganze Scheiße angefangen.

Corie Emm Die Plattenbossin Roman

Ein Tag zuvor

Kapitel 2

Wie immer ohne anzuklopfen, hatte er die Tür zu meinem Büro aufgestoßen und war an meinen Schreibtisch spaziert. Er trug seine 500-Euro-Sneaker zur Anzughose und dazu – ich musste zweimal hingucken, um es zu glauben – tatsächlich einen roten Palästinenserschal mit Louis-Vuitton-Logo. Diese Zumutung galt in seiner Welt als cooler Stilbruch.

„Finnya, ich hab schlechte Neuigkeiten!“

Unbeeindruckt hackte ich weiter auf meine Tastatur ein. Neuigkeiten von Hannes fand ich grundsätzlich schlecht.

„Was?“, knurrte ich, den Blick weiterhin auf den Bildschirm geheftet.

„Hab völlig verschwitzt, dass Nicoles Schwester morgen Geburtstag feiert.“

„Heißt?“

„Dass wir mit den Zwillingen heute Nachmittag nach Dettling runterfahren und ich erst am Sonntag heimkomme.“

Aha. Was ging mich das an? Hannes’ Familienfeiern im Schwabenkaff interessierten mich so viel wie ein vertrockneter Mäuseschiß in der hintersten Ecke einer Müllhalde.

„Und?“

„Miss Plem Plem kommt nachher in Berlin an.“

Der Idiot trat näher heran und klopfte mit dem Ende seines dämlichen Wischmobs gegen die Glasplatte meines Schreibtisches. Diesen Besen, mit dem er beim Curling die Eisoberfläche vor einem Spielstein glatt wischte, schleppte er auch außerhalb seiner sportlichen Aktivitäten unaufhörlich mit sich herum.

Ich hielt mit der Tipperei inne.

Stimmt. Das war mir in der Vorfreude auf meine geplanten Wochenendaktivitäten völlig entfallen. Es stand ein großer Tag bevor. Sowohl für Hannes und sein neues Signing Miss Plem Plem als auch für unsere ganze Firma. Genau genommen für die gesamte deutsche Musikindustrie. Hannes’ Job war es, seine Künstlerin bei diesem Event zu begleiten, aber nun wollte der zur Torten-Völlerei ins Kuhkaff. Wie bitte stellte er sich das vor?

„Um Miss Plem Plem musst du dich kümmern. Abholung vom Flughafen, Abendessen mit Reini und morgen der Liveauftritt bei Herrwitz’ Show“, unterbreitete er mir seine Planung in gelassenem Ton.

Wütend fuhr ich herum.

„Willst du mich verarschen?“

„Nö.“

Ich pfefferte meine drahtlose Maus so auf den Tisch, dass sie abprallte und vor ihm auf dem Boden landete. Er wischte sie einfach zur Seite. Ich fuhr hoch, stützte beide Hände auf der Tischplatte ab und schnauzte: „Es war abgesprochen, dass du die Betreuung machst!“

„I know.“ Er setzte eine möchtegern-bedauernde Miene auf. „Hab die B-Day-Party leider verschwitzt.“

Ich stemmte die Arme in die Hüften. „Vergiss es! Muss deine liebe Gattin und die Kinder halt alleine fahren.“

Er zog die Brauen hoch, jedenfalls soweit seine glatt gebügelte Botox-Stirn das zuließ.

„Ne, ausgeschlossen, dass Hanno und Hanja ohne Papa fahren.“ Er lächelte süffisant. „Ich hab das mit Jürgen abgesprochen. Der ist total beruhigt, dass du die Betreuung übernimmst, und wir trinken morgen ’nen Sekt auf deinen Einsatz – Stößchen!“ Sein breites Lächeln entblößte eine Leiste unnatürlich weiß gebleichter Zähne.

Mir gefroren die Gesichtszüge. Natürlich. Diese miese kleine Ratte.

Langsam glitt ich zurück in den Sessel. Seine Frau Nicole und ihre Schwester waren schließlich die Töchter unseres Oberchefs Jürgen Holtkamp. Der wollte bei der trauten Geburtstagsparty selbstverständlich seinen Schwiegersohn nebst Enkelkinder bewirten. Ich dagegen hatte meinen sechsundvierzigsten, der vor zwei Wochen auf einen Sonntag gefallen war, allein im Büro verbringen müssen, weil Holtkamp am Freitagabend eingefallen war, dass er Montag eine Sonderauswertung der Quartalszahlen an die Mutterfirma in Amerika übermitteln wollte.

„Cool, danke!“ Hannes zwinkerte und zog wippenden Schrittes von dannen.

Ich schluckte schwer und hätte ihm gern meinen Computerbildschirm hinterhergeworfen. Stattdessen schnappte ich mir das Telefon.

„Ben, schick mir mal bitte den Schedule von der Plem Plem und ‚Rekordverdächtig!‘ rüber. Hannes ist raus. Ich mach das jetzt.“

„Echt? Okay“, wunderte sich mein Mitarbeiter.

Rumms – Hörer auf den Apparat geknallt, die Schreibtischschublade aufgerissen und das Nasenspray herausgeholt. Das Zeug verbrauchte ich mittlerweile in rauen Mengen und verpasste mir zwei ordentliche Schübe.

Meine Kollegen hielten es sicher für ein normales Schnupfenmedikament. Anstatt Erkältungen kurierte es allerdings die Stimmung: Es enthielt ein hoch dosiertes Antidepressivum, das – im Gegensatz zu den herkömmlichen Glückspillchen – auf die Nasenschleimhaut gesprüht sofort das Gehirn flutete und im Nu wirkte. Das Zeug war in Deutschland verboten, deswegen importierte ich die Fläschchen aus den USA – ein Leichtes bei meinen vielen Geschäftsreisen.

Ich trat gegen die Wand und stieß mich dabei so von ihr ab, dass ich mit meinem Sessel zum CD-Regal rollte. Es füllte eine ganze Seite meines riesigen Büros. Mein Finger glitt über jene Titel, die ich sitzend gut erreichte: Alben und Singles mit dem Anfangsbuchstaben W. Vermutlich war ich die einzige Person auf der Welt, die Musik nach Titeln anstatt nach Künstlern ordnete und Tonträger hortete, anstelle von Streams.

Ich zog eine CD hervor, deren Cover einen Mann auf einem Sandweg zeigte. Er hielt die eine Hand an sein Herz, in der anderen einen Koffer. Dass es sich dabei um den Interpreten Ingo Pohlmann handelte, konnte man nur vermuten, denn inmitten seiner wehenden blonden Mähne klaffte ein schwarzes Loch. Wie bei jedem Artwork hatte ich das Gesicht des Künstlers fein säuberlich mit einem Skalpell herausgetrennt. Ich fand, in der Kunst sollten die Schaffenden in den Hintergrund treten und die Werke für sich allein sprechen lassen.

Jenes Musikstück hatte stets meine Stimmung gehoben, was ich jetzt echt dringend benötigte. Rein damit in den CD-Player!

Als die Wirkung des Nasensprays einsetzte, erklang Ingos rauhe Stimme durch die Diamant-Membranen meiner Lautsprecherboxen und sang von der Weite eines sommerlichen Meeres. Mein Magen, der sich wie von einer Panzerfaust gequetscht anfühlte, begann sich zu entspannen.

Meer. Mein Gott, da wäre ich jetzt auch gern.

Ich drehte mich zur bodentiefen Fensterfront und streckte die Beine lang. Zwölf Stockwerke unter mir floss die Spree dahin. Ein winziges Dampferschiff tuckerte gemächlich über das trübe Wasser, die roten Backsteingiebel der Berliner Oberbaumbrücke erhoben sich in einen regenverhangenen Aprilhimmel und zu ihren Seiten standen gekachelte Fabrikgebäude mit schmiedeeisernen Zargenfenstern neben friedlichen Riesen aus spiegelndem Glas.

Einmal tief ausatmen.

Ein Vogelschwarm durchschnitt den grauen Himmel, hielt einen Moment inne und stand regungslos in der Luft, bevor er die Richtung änderte und über die Figuren des Molecule Man davon stob. Das zerlöcherte Kunstwerk stand im Wasser, stählerne Titanen mit erhobenen, einander entgegengestreckten Händen. Sie schienen sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

Noch immer verbreitete Ingo Pohlmann sommerliche Stimmung, ich wirbelte herum und schlug auf den Stopp-Button des CD-Players, denn jetzt war verdammt nochmal kein Sommer!

Schon riss ich eine neue CD aus dem Regal, knallte sie auf den Antriebsteller, drückte auf Play.

Alec Empire feuerte metallische Beatsalven durch den Raum. Ich drehte auf volle Lautstärke. Es hörte sich an, als würde gerade ein Hubschrauber in meinem Büro landen. Gut so. Sollten ruhig alle Bescheid wissen: Wehe jemand wagte, mich jetzt zu stören! Mit einem Satz stürzte ich zu meiner Besprechungscouch und warf mich mit Schmackes der Länge nach auf das Sitzmöbel. Kissen flogen wild durch den Raum, meine Schuhe hinterher.

Dieser miese Penner! Immer dasselbe mit ihm, ständig musste ich seinen Dreck aufräumen, und wenn es hart auf hart kam, zog er das Schwiegervater-Ass aus dem Ärmel. Tagtäglich riss ich mir den Arsch auf, opferte mein Leben für die Firma und wenn ich ein einziges Mal etwas Schönes vorhatte, wurde es wieder von der Botox-Fresse durchkreuzt.

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen und würgte sie energisch hinunter.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, brüllte ich in Alec Empires ohrenbetäubendes Maschinengewehr-Getöse und hieb die Faust in die Lehne. Die Stelle war bereits jämmerlich abgewetzt und die Naht an mehreren Stellen aufgeplatzt.

Schließlich lag ich da, presste die heiße Wange an das kühle Leder und starrte reglos aus dem Fenster. Endlos breiteten sich Berliner Dächer vor mir aus, die Häuser erschienen wie Spielzeugklötze und ganz hinten ragte kerzengerade der Fernsehturm hervor. Vor mir lag eine der eindrucksvollsten Aussichten der Stadt, dieser Blick aus der Chefetage der Mondial Music Group. Leider forderte jenes Privileg jede Menge Opfer – und das vom allerersten Tag an.

Schon ganz am Anfang meiner Laufbahn hatte ich zwei Karriere-Ratschläge erhalten, und zwar von den einzigen beiden Frauen, die es damals überhaupt in die höheren Etagen geschafft hatten.

Ratschlag Nummer eins: Interessiere dich für Fußball!

Fußball, ernsthaft?! Verschwitzte Jungs, die neunzig Minuten oder länger einem miefenden Lederklumpen hinterherrannten? So dumm war nicht mal der Hund meiner Nachbarin. Eine Weile hatte ich mich damit gequält, mir tatsächlich Spiele anzugucken, bis mir klar wurde: Kein Schwein kontrollierte, ob ich mir das Gekicke wirklich angesehen hatte, und es reichte völlig aus, mit Fußballwissen um mich zu werfen. Ein kleines bisschen tägliche Internetlektüre, die bahnbrechenden Tore und Fouls im Schnelldurchlauf bei YouTube – und schon sahen mich die männlichen Kollegen und Geschäftspartner mit völlig anderen Augen. Also änderte ich den Tipp geringfügig und ersparte mir fortan, dem stumpfsinnigen Gebolze zuzusehen.

Manchmal trug ich besonders dick auf und lief mit so einer bescheuerten „11 Freunde“-Zeitschrift unter dem Arm herum. Ich fühlte mich dabei wie eine Investmentbankerin, die bei wichtigen Meetings mit neuen Kunden demonstrativ die Financial Times aus der Aktentasche zieht. BAMM. Ich knallte die Zeitschrift lässig auf den Besprechungstisch und beobachtete die in Sekundenschnelle stattfindende Verwandlung der Typen: Sie hielten einen Moment inne und prompt flammte das Licht der Erkenntnis auf, Kommodenfächer schoben sich auf und zu und ich wurde schnurstracks von der Kategorie „Fick-Material“ in die Schublade „Kumpel“ sortiert. Das schloss sich gegenseitig aus, denn Kumpel zu ficken ist in der Welt des Fußballs einfach mal tabu. Deswegen gibt es ja auch keine schwulen Fußballer.

Die Zeitschrift eignete sich übrigens hervorragend als Mülldepot, wenn ich mir die Intimzone enthaarte. Wachsstreifen auf das Genitalhaar, abziehen und ZACK: „Riech mein Gemächt, Jogi“ – die behaarte Klebefläche mitten in die Visage des Ex-Bundestrainers. Der schnüffelte bekanntlich ganz gern am Schritt.

Ratschlag Nummer zwei lautete: „Sauf sie alle unter den Tisch!“ Das funktionierte leider nicht in der Mogelpackung: Man musste nämlich wirklich trinken. Allerdings stellte ich fest, je feuchtfröhlicher das Saufgelage im In-Restaurant ausfiel, desto weniger bemerkte jemand, wenn ich den einen oder anderen Drink in der Topfpflanzen-Deko versenkte. Da die hippen Locations, in denen das Angus Steak fünfundsiebzig Euro aufwärts kostet, stets die gleichen waren, achtete ich darauf, dass bei meinen Bewirtungen immer schön die Tische gewechselt wurden – denn die betroffene Flora hatte nach einer Weile eine ganz schöne Fahne.

Wenn ich dem Chef von „Rock am Ring“ lallend auf die Schulter schlug, der Bedienung „Die nächste Runde Doppelte!“ zugrölte oder „Macht ihr schon schlapp, Jungs?“ in Richtung glasiger Augen meiner Tischnachbarn raunte, erklomm ich die Kommodenschublade „Respekt, die hat was drauf!“.

Diesen beiden Ratschlägen hatte ich mit der Zeit mein ganz persönliches i-Tüpfelchen hinzugefügt und damit meine unschlagbare Erfolgsstrategie gefunden: Ich erzählte offen herum, dass ich bisexuell sei. Was frei erfunden war. Außer im Internet oder irgendwelchen Filmen hatte ich bisher keine fremde Vagina besichtigt. Mit diesem selbst initiierten Gerücht bezweckte ich, dass ich auf dem Höhepunkt der Saufgelage absolut glaubhaft johlen konnte: „Leute, ich glaub, wir haben uns für heute Abend ein bisschen Entspannung verdient! Auf ’nen Drink ins Prestige?“

Das Prestige war ein Nobel-Bordell am Stadtrand Berlins.

Lesbisch hätte ich nicht sein dürfen, sonst wäre eine quietschende Schublade mit ungeölten Rolllagern auf- und wieder zugeschoben worden, in der ich für den Rest meiner Tage verschimmelt wäre. Ein bisschen bi war von den in der Steinzeit hängen gebliebenen Hirnzellen der alten weißen Männer in den obersten Geschäftsriegen hingegen voll akzeptiert.

Wenn ich mir im Prestige eine strapsbekleidete Brasilianerin aussuchte, raunte ich den Business-Partnern zwinkernd zu: „Mal was Exotisches heute!“, und verbrachte eine halbe Stunde bei ihr auf dem Zimmer, manchmal plauschend, manchmal Handy scrollend. Dies zu einem horrenden Preis, den ich jedoch definitiv lieber den Mädels zusteckte als den Angus-Steak-Locations. Bei meinem ersten Mal hatte ich sage und schreibe zwei Stunden bei einer kettenrauchenden Rothaarigen verbracht (die ausschließlich bei geöffnetem Fenster paffen durfte). Bei meiner Rückkehr stand ich fröstelnd vor der versammelten Kollegenmannschaft und wurde besorgt angestiert.

„Was hast du denn so lange getrieben? Wir dachten schon, du hast ’nen Absturz!“

So hatte ich mit der Zeit herausgefunden, dass ein gekauftes Tête-à-Tête durchschnittlich eine halbe Stunde dauerte, inklusive An- und Ausziehen.

Mit diesen Ausflügen katapultierte ich mich in die Schublade mit dem Etikett „Pferde stehlen“. Das bildet für Frauen die maximal erreichbare Liga. Das Fach „auf Augenhöhe“ bleibt BH-Trägerinnen in meiner Branche grundsätzlich verschlossen – obwohl man sich dafür den ganzen Fußball-, Sauf- und Puffmist ersparen kann, wenn man zwei Kriterien erfüllt: Man ist Meister im Bullshiten und besitzt Bartstoppeln, alternativ einen Bart. Und damit meine ich selbstverständlich keinen Damenbart.

In den letzten Jahren hatte ich den Saufpart leicht abwandeln müssen, da die feinen Herren der geschäftlichen Oberliga ein ehrliches Bier oder gepflegte Kurze ausschlugen und sich stattdessen lieber die Nase puderten. Koks fand ich ätzend. Ich hasste den Turn – was ist bitte geil daran, eine halbtaube Fresse zu kassieren, um für wenige Minuten zu denken, man sei der Schärfste, ehe man sich schon wieder nachlegen muss? Die Zieherei strapazierte einen normal sterblichen Körper auf die Dauer erheblich, erst recht wenn man so viele „geschäftliche Besprechungen“ hatte wie ich. Trotzdem musste ich natürlich am Start sein und hatte mir hierfür eine Strategie ausgedacht, mit der ich mich um das verhasste Ritual herum manövrierte: In den engen Toiletten-Kabinen oder dunklen VIP-Ecken, in denen die Kokserei stattfand, herrschte diskret schummeriges Licht – ein klarer Vorteil, wenn man auf Tricks angewiesen ist. Meiner bestand darin, dass ich die Typen zuerst ziehen ließ. Im nächsten Moment warfen nämlich alle (alle – beobachten Sie das mal!) den Kopf in den Nacken und beschäftigten sich für einen Augenblick mit der eigenen Nasenscheidewand. Genau in dem Moment beugte ich mich über die für mich vorgesehene Line (möglichst dicht, damit mein Kopf das Szenario verdeckte), stopfte mir das Röhrchen in die Nase und pustete kräftig. Verursacht (mit etwas Übung) genau das gleiche schniefende Geräusch wie beim Ziehen und verteilt den Dreck auf Fußböden oder WC-Sitze.

Tja, was tut man nicht alles für die Karriere.

So kam es, dass ich seit vielen Jahren im Chefsessel des größten Musiklabels Deutschlands sitze. Die einzige Frau, die es weiter als zur Leiterin der Marketingabteilung geschafft hatte. Zu meinem Leidwesen nicht allein: Hannes, der größte Bullshiter von allen, klebte mit halber Arschbacke in gleichgestellter Co-Funktion und seinem Schwiegervater als Oberchef im Rücken auf meinem Thron. Und genau dieser Arsch hatte mir eben (mal wieder) mein Wochenende versaut.

Denn nun durfte ich sein neuestes Signing vom Flughafen abholen und bei der Live-Sondersendung von „Rekordverdächtig!“ betreuen. Die Show war ein mediales Ereignis – nicht wegen Hannes’ Newcomerin Miss Plem Plem, sondern weil das Format über ein Jahrzehnt, nachdem sich Show-Titan Thorsten Herrwitz in den Ruhestand verabschiedet hatte, ein sensationelles Comeback feiern sollte.

Miss Plem Plem war eine von Herrwitz’ Gästen, ein zart glimmendes Sternchen unter etablierten Stars. Hannes durfte mit einiger Berechtigung annehmen, dass dieser Auftritt ihrer jungen Karriere einen gewaltigen Schub verpassen würde, und wetzte schon die Messer, seinen neuen Goldesel gnadenlos auszuschlachten. Diesen wollte er als deutsche K-Pop-Version von Lady Gaga positionieren. Allein der Name spiegelte schon den Möchtegern-Abklatsch der US-Künstlerin wider. Wer sich solch einen Mist ausdachte, dem musste völlig der Bezug zur Realität entglitten sein.

„Endgeil. Das ist endgeil!“, hatte Hannes gefaselt, als er mir seine Namensidee präsentierte. Die war ihm vermutlich eingefallen, als er sich nach durchzechter Nacht im Rückspiegel seines Porsche Carrera beschielt hatte.

„Hm“, hatte ich gebrummt und mit meiner Lehne gequietscht.

Das tue ich immer, wenn mir etwas missfällt. Kennen Sie die Kommunikationsstrategie „Wer fragt, der führt“? Da ist was dran. Wer jedoch mit missbilligend hoch gezogenen Augenbrauen im Sessel sitzt, seinem Gegenüber stumm in die Augen starrt und die Stille des Raumes von einem penetranten Quietsch-Quietsch durchschneiden lässt, der REGIERT. Bei ganz besonders harten Nüssen füge ich eine Nuance Kopfschütteln hinzu, allerdings ganz langsam und so dezent, dass es kaum wahrnehmbar ist. Spätestens in dem Moment fangen meine Gegenüber an zu stottern.

Das Unterbewusstsein ist halt ein Arschloch.

Zugegebenermaßen zieht die Methode allein bei Gesprächspartnern, die über ein winziges Fünkchen Sensibilität verfügten – an Hannes perlt sie daher ab.

„Endgeil“, hatte er wiederholt und dabei genickt wie ein Wackel-Dackel mit luftleerem Raum zwischen den Lauschern.

Mir ein Rätsel, wie seine Frau Nicole das aushielt. Ob der auch im Bett die emotionale Intelligenz eines Steins bewies?

Ich hatte das Lehnenquietschen verstärkt. „Ehrlich gesagt finde ich es …“, ich durchforstete mein Hirn nach einer diplomatischen Formulierung für völlig plump und einfallslos, „… nun, das ist dem Original ausgeprochen ähnlich.“

„Das ist ja der Gag! Unsere deutsche Answer auf Lady Gaga, sozusagen eine Persiflage, das ist Kunst mit“, er malte zwei Gänsefüßchen in die Luft, „dem gewissen Augenzwinkern, verstehste?“

Keineswegs. Anstatt zu zwinkern, begann mein Auge nervös zu zucken. Wenn hier etwas eine Persiflage war, dann das Wort „Kunst“ aus seinem Mund. Dieses Ressort gehörte einzig und allein mir. Hannes, alias Dr. Copy, kümmerte sich um „Kommerz“ und verdarb mir mit seinen wahllos zusammengecasteten Retorten-Marionetten regelmäßig die Laune.

„Den Namen würde ich an deiner Stelle überdenken“, wandte ich ein.

Im Grunde genommen konnte es mir schnuppe sein, wie Hannes seine Kack-Acts nannte, war es aber nicht. Denn leider platzierten die sich kontinuierlich in den Streaming-Charts und da draußen interessierte es keine Sau, dass unsere Firma intern in zwei Unterlabel aufgeteilt war, denn überall stand Mondial Music drauf. Deswegen war es mir ein Dorn im Auge, dass Hannes unermüdlich das Image unseres Labels verramschte.

Der schob nun die Unterlippe vor und maulte: „Come on, du verstehst den Twist nicht.“

Den verstand ich schon, fand ihn allerdings total daneben.

„Ich denke, der ist für die meisten Leute da draußen schwer nachvollziehbar.“

Er legte die Arme über Kreuz. „Meinst du? So wie dein Oktobermund-Album?“

Ich zog die Augenbrauen hoch. Aha. Jetzt wurde der Joker rausgeholt. Leider war mein letztes Signing an allen Fronten gefloppt. Die erste Single war unter „ferner liefen“ dahingedümpelt. Für Hannes und seine Entweder-Top-10-oder-du-fliegst-raus-Strategie ein Anlass, die Band sofort abzuschießen. Da ich jedoch an den langfristigen Aufbau von Künstlern glaube, investierte ich in eine zweite Single und sogar in ein ganzes Album. Dieses entpuppte sich blöderweise als Ladenhüter. Beim Blick auf die Quartalszahlen hatte Oberchef Holtkamps Laune Keller-Niveau erreicht und ich hatte mal wieder gebibbert, dass er meinen Zweig absägte, weil ich die Zahlen nicht brachte.

Ich setzte an: „Der Vergleich hinkt! Meine Vision …“

Hannes unterbrach mich: „War wieder irgend so ein völlig überflüssiges Independent-Konzept-Album. Wer heutzutage Alben macht, hat den Schuss nicht gehört.“ Er zielte mit seinem Wischmob auf mich, als wolle er mich erlegen. „Singles only, Baby, und die Streaming-Kasse klingelt! Ich sag dir: Mein neues Material geht fett durch die Decke. Papa täuscht wie immer cool an und zieht dann links vorbei, um das Budget zu retten, das du ständig vermasselst. Und at the end of the day? Weiß Holtkamp, wer ’ne Flughöhe drüber performt!“

Ich schwieg. Wenn Blicke töten könnten.

Seinen Besen als Gehstock missbrauchend wandte er sich zum Ausgang und verkündete: „Wart’s ab. Das ist Trash vom Feinsten mit dem gewissen Style.“

Meine Bürotür ließ er offen stehen.

Wütend hatte ich den Mülleimer unter meinem Schreibtisch umgetreten und mir notiert: „Drop Oktobermund.“

Höchste Zeit, dass die sich ein neues Label suchten.

Nun lag ich kraftlos auf meiner Bürocouch, Eric Empire ballerte mir sein Kanonenfeuerwerk um die Ohren. Mir blieben gerade einmal drei Stunden, bis ich diesen Trash vom Feinsten vom Flughafen abholen durfte.

Corie Emm Die Plattenbossin Roman

Kapitel 3

Etwas später hatten mein Mitarbeiter Ben und ich die Berliner Stadtgrenze hinter uns gelassen und ich steuerte mein nagelneues Auto durch hoch gewachsene Brandenburger Kiefern. Wie ein Schiff glitt der riesige Wagen über die dreispurige Autobahn. Das Vieh hatte ich aus eigener Tasche gelöhnt, da weder Holtkamp noch der amerikanische Mutter-Konzern einsehen wollte, wieso ich ein derart großes Auto brauchte. Bei Hannes Porsche hatte keiner mit der Wimper gezuckt und vermutlich war Jeff Besos’ ins All fliegende Pimmelrakete auch als Firmenwagen eingetragen, aber bei mir hatte die Controlling-Abteilung gelöchert: wozu sieben Sitze?

Bestimmt nicht wegen der Fahrgäste! Die letzte Reihe hatte ich nämlich postwendend ausbauen und den frei gewordenen Raum mit einem bis unter die Decke gestapeltem Soundsystem ausstatten lassen, das jedem Autotuner Tränen in die Augen trieb. Fortan feierte ich die Momente, wenn Hannes und ich unsere in der Tiefgarage nebeneinander geparkten Wagen zeitgleich bestiegen: Zündschlüssel gedreht und BUMM – ließ mein Monstersound seine Potenzpumpe einen Satz in die Kinderwagen-Ecke machen. Für diese Gelegenheiten hatte ich mir eine extra Playlist mit dem Namen „Hannes“ angelegt. Während ich im Schritttempo an ihm vorbeifuhr, phrasierte Tic Tac Toe auf den Punkt, wie ich meinen Kollegen fand, nämlich so richtig sch-sch-sch-sch-sch-sch-scheiße.

Wieso musste diese Plem Plem eigentlich auf einem endlos weit entfernten Privatflughafen landen? Ich knirschte mit den Zähnen.

Da klingelte Bens Telefon.

„Hey“, grüßte er fröhlich, hielt inne und lauschte. Es folgten betroffene Ähs, Ohs und „Das tut mir wirklich leid, Reini“.

„Her damit!“ Ich streckte die Hand nach seinem Handy aus, erhielt es prompt und klemmte es mir unters Kinn.

„Was ist los?“

„Finnya? Wieso ist Hannes’ Handy aus? Du, ick krieg gleich ’nen Föhn.“ Plem Plems Manager klang wütend. „Ick hab euch schon tausendmal verklickert, dass ick mit diesen Swiss-Jet-Pennern nicht fliege. Völlig unfähige Lackaffen! Jetzt streikt deren Nuckelpinne und nirgends Ersatz in Sicht. Ick will Nova Lines!“

Das war mir bekannt, allerdings fast doppelt so teuer und ich blätterte die Scheine hin.

„Beruhige dich“, beschwichtigte ich ihn, „nehmt ihr halt ’nen Linienflug.“

„Nee, ditt ist Bockmist, unzumutbar für meine Künstlerin. Mit Hannes war ein Privatjet abgemacht!“

„Tja, folglich musst du das wohl mit Hannes klären.“

Ich legte auf, reichte dem überraschten Ben das Telefon zurück und nickte ihm beruhigend zu. Ich gab dem Ganzen drei Minuten.

Und tatsächlich: Postwendend klingelte mein Handy. Ich drückte auf die Freisprechanlage.

„Ja?“

„Mensch, ihr bringt mich in Teufels Küche.“

„Ich geb dich an Ben weiter“, flötete ich, „der sucht euch den nächsten Flieger raus.“

Dieser sollte natürlich am Berliner Flughafen landen. Also wieder zurück in die Hauptstadt.

„Nimm dir das bloß nicht zu Herzen“, riet ich Ben, nachdem dieser sein Gespräch mit dem missmutigen Reini beendet hatte. Er war neu im Team und noch in der Probezeit. „Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus, sonst kannst du es dir in der Musikbranche abschminken. Reini kommt manchmal ein bisschen schroff rüber, aber ist im Grunde ein netter Kerl.“

Ben rieb sich den dichten blonden Vollbart. Seine Hand war mit bunten Tätowierungen zugehackt, ebenso wie der blasse Hals. Die Jugend von heute sah aus wie früher die Klowände in der Schule.

„Und der fliegt immer im Privatjet?“, erkundigte er sich.

Ich schüttelte den Kopf. „Nee, das ist irgendwie neu, eigentlich pfeift er auf Luxus.“

Jedenfalls solange ich ihn kannte und das waren Ewigkeiten. Mit über sechzig galt Reini als Dinosaurier der Branche, vernetzt wie eine Spinne mit Nerven wie Drahtseilen. Als ich blutjung beim Plattenlabel angefangen hatte, war er einer der wenigen Männer, von denen ich nie zu hören bekam, dass ich einen knackigen Arsch hätte und ein gemeinsamer Drink doch eine nette Idee wäre. Stattdessen betonte er: „Der Saftladen hier braucht kluge Mädels wie dich“, und hatte mir wiederholt mit seinen Connections geholfen.

Ben rückte sein buntes Basecap zurecht und stellte fest: „Na, wenn sich einer Starallüren erlauben darf, dann er. Ich hab gelesen, dass er mit „Ton Steine Scherben“ das Bethanien besetzt hat, damals war der vierzehn!“

„Kann sein“, bestätigte ich, „Reini hat auch schon mit siebzehn Konzerte für Element of Crime organisiert.“

„Sven Regener?“ Ben stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

Respekt. Ein Mittzwanziger wie Ben kannte die Urgesteine der deutschen Indierockszene. Das imponierte mir. Ich deutete aufs Radio. Aus den Lautsprechern krächzte Steven Tyler „I don't want to miss a thing“.

„Mit denen ist Reini auch mal getourt.“

„Aerosmith? Echt?“ Ben lauschte der Musik. „Krasser Welthit.“

In der Tat. Kaum jemand wusste, dass es unfassbar lange 28 Jahre gedauert hatte, bis die Band mit dem Track ihren ersten – und einzigen – weltweiten Nummer-eins-Hit landeten, natürlich geschrieben von einer Frau. Mit der Textzeile „I don't want to fall asleep“ traf Songwriterin Diane Warren tatsächlich den Nagel auf den Kopf, denn wie ich wusste, liebte der Leadsänger jede Art von Hilfsmittel, um sich wach und lebendig zu fühlen.

Reini hatte mir nach der Tour ein lang gehütetes Geheimnis verraten: Während die ganze Welt glaubte, Stevens am Bühnenmikrofon hängende Schalsammlung, die ihm den Spitznamen „Rock Scarf“ eingebracht hatte, sei so eine Art modisches Markenzeichen, lag die Wahrheit etwas anders.

Ich wandte mich an Ben: „Wusstest du, dass Steven Tyler in seinen Schals überall kleine Taschen eingenäht hatte, in denen er Pillen versteckte?“

„Echt jetzt? Geil.“ Ben prustete los. „Sein Bühnenproviant, was?“

Ich lachte ebenfalls. Wir plauderten über die enge Beziehung zwischen Musikern und Rauschmitteln, bis Ben das Thema wieder auf Reini lenkte. „Stimmt es, was man neuerdings so über ihn hört?“

Ich seufzte.

Nach seinen wilden Zeiten hatte die Manager-Ikone sich auf die exklusive Betreuung einer Band fokussiert: Hartwärts – die A-Klasse des Rock. Bis diese ihm vor einigen Monaten urplötzlich vorgeworfen hatte, Geld unterschlagen zu haben. Das Social-Media-Karussell stürzte sich gierig auf die Vorwürfe und Reinis karges Statement, er habe niemanden bestohlen und die Öffentlichkeit solle sich raushalten, blies die Spekulationen zu einem handfesten Shitstorm auf.

„Nein“, erklärte ich.

Reini, ein Dieb? Unvorstellbar. Er war eher der Typ, der Geld an andere verschenkte. Obwohl er sich bei meinen Nachfragen ebenfalls bedeckt hielt.

„Da ist was schiefgelaufen“, äußerte ich meine Vermutung, „und das Netz hat das hochgespielt.“

Mit der Folge, dass Hartwärts ihn fristlos gefeuert hatte, die gesamte Rockszene ihm die Tür vor der Nase zuknallte und er nun Acts managen musste, die er früher nicht einmal mit der Kneifzange angefasst hätte.

Ich hatte mich gefreut, ihm auch einmal aus der Patsche helfen zu können, und ihm den Job mit Plem Plem beschafft.

Nun fragte ich mich, ob ich mir damit selbst ein Bein gestellt hatte. Fing Reini auf seine alten Tage an sich aufzuführen wie der nervtötende Haufen zwanzigjähriger Möchtegern-Manager, die ihre mickrigen Egos damit fütterten, dass sie sich die Umkleide mit Gucci-Logos tapezierten, die Chromfelgen ihres Mercedes AMG mit Schampus polieren ließen und alle Minuten nach neuen Nutten und Koks verlangten? Normalerweise pfiff Reini auf jede Art von Schickimicki. Ein paar Bier und ein bis zwei Stangen Zigaretten, am besten täglich, dazu faire Künstlerverträge für seine Schützlinge und ihm lachte das Herz. Mir war wirklich schleierhaft, was dieses Privatjet-Gedöns neuerdings sollte.

Plötzlich durchbrach ein grelles Licht meine Gedanken.

„Oh, Mist!“, rief Ben. „Ich glaube, wir wurden gerade geblitzt.“

„Spesen“, bekundete ich trocken.

Er grinste verschwörerisch. „Logisch!“

Ich deutete auf die Musikanlage. „Wir können auch etwas anderes anmachen. Was hörst du denn so?“

Der Musikgeschmack meiner Beschäftigten interessierte mich stets brennend. Dieser Neuzugang, mit dem ich bisher wenig zu tun gehabt hatte, schien der Rock-Fraktion zugetan.

„Ach, querbeet, so ziemlich alles.“

Oh. Doch keine Gitarren. Das So-ziemlich-alles-Lager hörte erfahrungsgemäß die Streaming-Charts auf Shuffle und besaß wenig eigenen Geschmack. Was einerseits für Bens Job ein Vorteil war: Als Junior-TV-Promoter musste er schließlich Fernsehredaktionen davon überzeugen, Hannes’ Schrott-Acts in ihren Sendungen zu zeigen – wenn man Scheiße verkauft, fällt das mit verstopfter Nase bedeutend leichter. Da Hannes und ich uns das Personal teilen, vertrat Ben andererseits auch meine Künstler und da erwartete ich durchaus eine gewisse musikalische Affinität.

Shaik, der Leiter unserer TV-Abteilung, schwärmte allerdings von unserem Küken und versicherte, Ben bringe eine ungebrochene Begeisterung für seinen Job mit. Das war natürlich Gold wert.

Wie ich hörte, durchlief Ben gerade jene Phase, die sämtliche Plattenlabel-Frischlinge absolvierten: Er besuchte jeden Künstler-Showcase und nutzte jeden Gästelistenplatz. Mir recht, solange er morgens pünktlich zur Arbeit erschien. Irgendwann würde er merken, dass ein Körper mit vier Stunden Schlaf pro Nacht keine Sechzig-Stunden-Wochen aushielt.

Nun gut, die Musikauswahl lag also bei mir.

Ein Knopfdruck auf die carbonverkleidete Konsole und mein Hintern wurde angenehm warm. Ein spärlicher Trost dafür, dass ich ihn an diesem Wochenende wieder nicht in meine heimische Couch fläzen konnte. Ich drehte den Lautstärkeregler auf, und bretterte zu Doja Cats „Boss Bitch“ zurück in die Hauptstadt.

Mit quietschenden Reifen bremste ich schließlich viel zu spät vor dem Flughafengebäude des BER. Ein Stau hatte uns aufgehalten und die Maschine war bereits vor 25 Minuten gelandet. Mist!

Es klopfte an meine Scheibe, ich ließ sie herunterfahren. Ein Typ mit Schnauzer und Kaffeebecher in der Hand glotzte mich wütend an.

„Ey, das ist Taxistand!“

Ich fuhr die Scheibe hoch, schrieb „Privattaxi“ auf einen Zettel und knallte ihn hinter die Windschutzscheibe. Tür auf und im nächsten Moment eilten Ben und ich die wartenden Taxis entlang.

„Guten Tag, Finnya!“ Eine unterkühlte Stimme ließ mich herumfahren. Maike! Wie immer verlieh die tiefe Furche auf der Stirn der „Rekordverdächtig!“-Produktionsleiterin ihr einen latent angestrengten Gesichtsausdruck. Neben ihr ein George-Clooney-Verschnitt im perfekt sitzenden Anzug, silbergraue Löckchen quollen aus dem offenen Hemd: Senderchef Klaus Steinbrink.

„Hallo, äh, was wollt ihr denn hier?“, stotterte ich.

Selten dämliche Frage. Klaus stand morgen die spektakulärste Sendung seit Jahrzehnten bevor und er schien gerade angereist, um die Lage vor Ort zu begutachten. Maike schlief sicher seit Wochen im Berliner TV-Studio, um alles zweihundert Prozent perfekt vorzubereiten, und holte als Kontrollfreak natürlich den Chef höchstpersönlich vom Flughafen ab. Business as usual. Ich stellte Ben vor und streckte Maike und Klaus meine Hand zur Begrüßung hin. Letzterer verzog die Miene und berührte sie wie einen toten Fisch. Maikes Händedruck fiel knochig aus, ich bemerkte Altersflecken auf ihrem Handrücken.

Sie erzählte: „Klaus ist grad vom ‚Young Talents‘-Award aus Zürich zurückgekommen. Eure Künstlerin ist da aufgetreten und zufällig saßen die beiden zusammen in der Maschine!“

Ben nickte. „Ja, die wollen wir gerade abholen.“

Missbilligender Ton von Maike: „Bisschen spät dran. Oder?“

„Der Verkehr“, rechtfertigte ich.

Wie ich sie kannte, fuhr sie drei Stunden früher los, um pünktlich auf die Sekunde am Gate zu salutieren.

Zu meinem Erstaunen erntete ich Verständnis: „Gott ja, die Hölle! Auf den Stress kann man verzichten, deswegen fahre ich lieber Taxi – man findet hier ja eh keinen vernünftigen Parkplatz!“

„Wirklich schlimm“, bestätigte ich und schielte zu meinem fahrbaren Panzer, der am Ende der Taxischlange halb auf dem Bürgersteig hing.

„Mensch, Klaus“, Ben schlug dem Sender-Chef auf den Rücken, „cool, dich mal persönlich kennenzulernen, wir hatten ja bisher nur am Telefon gequatscht.“

Klaus wirkte irritiert, Maike riss den schmallippigen Mund auf, als wolle sie ihre Empörung über die unprofessionelle Begrüßung gleich auf den Gehsteig spucken. Ben übersah dies und fuhr fort: „Bin schon total gespannt auf deine Show, meine Eltern waren früher Mega-Fans!“

Das Kompliment zog, Klaus erklärte: „Ihr hättet mir gleich stecken können, was dieses Fräulein Plem Plem für ein niedliches Mädchen ist. Dann hätte ich sie auch ohne diese Überredungssarbeit ins Programm genommen.“

Er blitzte mich wütend an.

Nun, ich hatte ein klitzekleines bisschen nachgeholfen, um ihn von Plem Plems Auftritt zu überzeugen. Musste er deswegen gleich nachtragend sein? So lief das halt im Geschäft.

„Gut, wir müssen los“, beendete ich den Smalltalk. Keine Zeit für Flexerei.

„Wir auch!“ Mit ausladender Geste winkte Klaus ein Taxi heran und schritt dem Wagen federnd entgegen. Abschieds-Nicken von Maike und schon trottete sie wie ein Schatten hinter ihm her, die ausgemergelten Ärmchen wuchteten seine Koffer über den Bordstein.

Sie tat mir leid.

Eilig hetzten wir ins Terminal, einen monumentalen Bau aus endlos weiten Fluchten. Glänzender Stahl traf auf warme Holzvertäfelungen, über uns ein gefühlt zehn Meter hohes Deckengewölbe aus Glas. Es wimmelte von geschäftigen Menschen, Kofferrollen dröhnten auf Steinboden, verzerrte Lautsprecherdurchsagen kündigten Flüge an, plappernde Reisende rauschten an uns vorbei.

„Du kannst Klaus nicht einfach duzen!“, zischte ich außer Atem.

„Was? Sorry!“ Ben wurde rot. „Ich dachte, weil alle so locker miteinander sind …“

Das stimmte, die Entertainment-Branche ist leger, aber es gibt gewisse Grenzen. Einen Klaus Steinbrink sprach man mit „Sie“ an, insbesondere als Neuling. Ben musste noch einiges lernen.

Endlich steuerten wir auf das richtige Gate zu. Wo steckten Reini und Plem Plem? Der Bereich lag wie ausgestorben. Waren die mit dem Taxi ins Hotel gefahren? Ich zückte mein Handy und drückte die Kurzwahl. Reinis Telefon war aus. Ben telefonierte ebenfalls und schien gerade Miss Plem Plem erreicht zu haben.

„Die sind noch drin, es gibt scheinbar ein Problem!“

Das Problem stieß keine fünf Minuten später eine kleine Seitentür auf und schrie: „Finnya! Fiiiiiinnyaaaaaa!“

Klobige Boots hallten auf dem Marmorfußboden, als Reini schnellen Schrittes auf mich zu stiefelte. Irgendwie erschien er mir in letzter Zeit verwahrlost. Das karierte Hemd hing zerknautscht aus der Jeanshose, die hellbraune Lederjacke glänzte speckig, graue Bartstoppeln übersäten das Kinn. Seine früher penibel gepflegte schulterlange Mähne zeigte einen weißen Haaransatz und zwischen fettigen Strähnen lugte die Kopfhaut durch. In einer Hand schwenkte er seinen aufblasbaren Hämorrhoiden-Sitzring.

Mit rotem Gesicht schlug er bei uns auf.

„Hey Püppi“, mit der freien Hand umarmte er mich und strich mir über den Rücken, „haste Connections zur Flughafenleitung?“

„Was?“

„Jemand, der hier watt zu sagen hat, verdammte Hacke! Die haben den Hund einkassiert!“

Welchen Hund? Fragend wandte ich mich an Ben.

Der wurde blass und stotterte: „Die hatten mir versichert, dass das klar geht.“

Hinter Reini tauchte jetzt Miss Plem Plem auf, daneben ihr schlaksiger Freund Noah. Mit seinen Lippenpiercings und vorstehenden Hasenzähnen brachte er nur ein genuscheltes „Die haben Tinkerbell behalten!“ hervor.

„Aha.“ Ich zählte eins und eins zusammen: Bei Hund plus oberdämlichen Kacknamen musste es sich um das zitternde Rattenvieh handeln, das Plem Plem normalerweise in ihrer Handtasche herumtrug und das mir neulich auf mein Bürosofa gepisst hatte.

„Und wieso?“, wandte ich mich an Reini.

„Haben watt von Routinekontrolle gequatscht und dass sie vom Arzt beglotzt werden muss, mehr wollten diese inkompetenten Flachwichser nicht verraten.“ Reini wirkte verzweifelt.

Ben bot an, das zu klären, und griff sein Telefon.

„Wie lief denn der Flug?“, wandte ich mich an Plem Plem, deren Styling anmutete, als hätte Olivia Jones auf LSD sie für ihre nächste Drag-Show aufgedonnert. Die Augenlider waren willkürlich mit Farbe zugeschmissen, dazu trug sie eine platinblonde Perücke drapiert als Vogelnest mit bunten Eiern. Kristallblaue Kontaktlinsen unter zentimeterlangen Wimpern, ihr pinkes Outfit bestand aus aneinander genähten „Miss Piggy“-Kuscheltieren und endete knapp über dem Gesäß.

Hannes hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet.

Sein „Produkt“ klagte mit hoher Fistelstimme: „Tinki! Was wollen die von ihr?“

Woher sollte ich das wissen. Vielleicht hatte die Ratte wie so oft ihr Revier markiert und Lufthansa zeigte sich davon genauso wenig erbaut wie ich angesichts der dunklen Schatten auf meinen Sofapolstern.

„Hat Tinkerbell womöglich mal wieder eine schwache Blase gehabt?“, gab ich meiner Vermutung Ausdruck.

Plem Plem bekam unschuldige Kulleraugen.

„Unmöglich! Wir haben ja im Flieger den Herrn Steinbrink kennengelernt, der fand Tinki total niedlich.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. Klaus Steinbrink interessierte sich für Hunde? Wohl kaum. Soweit ich wusste, galt sein Interesse weiblichen Wesen, getreu dem Motto: je jünger, desto niedlicher. Um in sein Beuteschema zu passen, hätte Tinkerbell auf den Hinterbeinen und in High Heels laufen müssen, am besten in Schulmädchen-Uniform.

„Wo ich gemerkt hab, dass sie wieder Pipi muss, da kam Herr Steinbrink zu Hilfe und ist mit ihr auf Klo.“

„Wie, auf Klo? Der ist im Flugzeug mit ihr Gassi gegangen?“

„Nein, nein, auf die richtige Toilette.“

Ach, du liebe Güte! Der Zwei-Meter-Mann Klaus, eingequetscht in die enge Toilettenkabine, hält einen pissenden Hund übers Klo und versucht im wackeligen Flieger die Schüssel zu treffen? Na, zum Glück war ihm der Meerschweinchen-Verschnitt nicht aus der Hand gerutscht, als er die Spülung betätigt hatte.

„Ob Tinki krank ist?“ Plem Plem klang besorgt.

Ich zuckte die Achseln. Nachdem Corona endlich besiegt war, wollte man sicher verhindern, dass irgendwelche Viecher neue Superkeime ins Land einschleppten.

„Ich geh live“, wisperte die Hundebesitzerin, drängte sich neben mich und hielt mir ihr Handy vors Gesicht. „Hey Li-La-Loonatix! Wir sind grade in Berlin gelandet und das ist Frau Staiger, meine Chefin!“

Überrumpelt glotzte ich in den Screen und sprang außer Sichtweite, als Plem Plem dazu überging, Tinkerbells Verschwinden mit ihren Fans zu teilen. Während Hannes seine Visage mit Vorliebe in jede Kamera hielt, blieb ich lieber hinter den Kulissen.

Ich schielte auf meine Armbanduhr. Wenn ich die Truppe schnell ins Hotel verfrachtete, blieb mir glatt ein Stündchen, um meiner ursprünglichen Wochenendplanung nachzugehen, bevor ich die junge Künstlerin plus Anhang zur Fütterung ausführen musste. Das wäre zumindest eine kleine Entschädigung für diesen bisher völlig katastrophalen Tag.

„Sind das deine?“ Ich deutete auf zwei riesige Koffer. Überflüssige Frage. Den einen zierte ein schillernder Regenbogenaufdruck, den anderen polsterte rosa Plüsch. Design Marke Augenkrebs, aber auf dem Kofferband sofort zu erkennen. Sowas sollte ich mir ebenfalls zulegen, damit konnte man sich kostbare Wartezeit sparen. Energisch schnappte ich das Gepäck und rollte Richtung Ausgang.

Plem Plem beendete ihr Filmchen mit den Worten: „… und melde mich wenn Tinki wieder da ist. Wir sehen uns bald wieder, ja? Hallyu ist für alle da!“

Das Grüppchen folgte mir.

„Frau Staiger!“ Noah schlurfte an meine Seite. Der Typ trug tatsächlich die gleichen silbernen Schlauchboot-Botten wie seine Freundin.

„Tom Ji ist am Boden zerstört wegen Tinkerbell. Das ist eine enorme psychische Belastung. Die braucht safe ihre Kraft, um sich auf unseren wichtigen Auftritt morgen vorzubereiten!“

UNSEREN Auftritt? Dass der Idiot sich kontinuierlich als Co-Manager aufspielte, war bekannt, aber offensichtlich verschwammen bei ihm jetzt endgültig die Grenzen zwischen Realität und Fiktion.

„Ja, das verstehe ich“, log ich, „Ben klärt das und Tinkerbell ist sicher ganz schnell wieder da.“

Von mir aus sollten die den Köter dem nächsten China-Restaurant verkaufen.

Endlich im Auto bemängelte Reini die ganze Fahrt über, dass das im Privatjet nie passiert wäre. Tom Ji hing erneut vor der Handykamera und fantasierte über etwaige Infektionskrankheiten ihres Hündchens. Ich schaltete auf Durchzug und dachte sehnsüchtig daran, dass ich gleich nach Hause düsen und ein winziges bisschen Zeit für mein streng geheimes Hobby haben würde.

Keine fünf Minuten genoss ich meine Vorfreude, da zerstörte Reini sie jäh: „Wenn wir im Hotel sind, gucken wir deine Kontakte durch. Irgendjemand muss jetzt hier mal auf’n Tisch hauen!“

Shit. Mein Abstecher nach Hause war geplatzt und der Abend würde anstrengend weitergehen.

Corie Emm Die Plattenbossin Roman

Kapitel 4

Wenig später saßen wir bei dezent einlullender Kaufhausmusik in der Lobby des „Artlovers“-Hotels. Fußboden, Wände, die Decke und sogar die Sitzmöbel der kühlen Halle strahlten schneeweiß, im Raum verteilt standen und hingen Skulpturen aus Draht. Eine Glaswand begrenzte die Raucherecke, in der Reini mir gegenüber eine Kippe mit der nächsten anzündete. Ben hockte getrennt von uns hinter der Scheibe in einem Sessel und versuchte Tinkerbells Verbleib zu klären. Obwohl Reini und ich unsere Kontakte rauf und runter telefoniert hatten, saß Tom Jis Schoßhündchen nämlich weiterhin am Flughafen fest. Die Künstlerin hatte sich aufs Zimmer verzogen, um ihre Fans am Koffer-Auspacken teilhaben zu lassen. Wenn ich es richtig mitgeschnitten hatte, hießen die „Loonatix“ ­­– so wie Lady Gagas „Little Monsters“, Beyonces „Beyhive“, Justin Bibers „Beliebers“ oder BTS’ „A.R.M.Y“. Meinen persönlichen Humor traf das Fandom der Band „Killers“, die nannten sich nämlich „Victims“.

Fans waren Reini und mir in der Hotel-Lobby allerdings herzlich egal. Ich trank bereits meinen dritten Kaffee. „Seit wann kümmert dich denn der Hund so?“

„Weeßte doch, wie wichtig die Fußhupe für die Kleene ist, und morgen ist der größte Auftritt ihrer Karriere. Ist Murks, wenn sie wegen so einer Aktion völlig durcheinander ist und die ganze Nacht schlaflos in der Falle liegt!“

Ich zuckte mit den Achseln. Dem Hund erging es in einer geräumigen Arztpraxis vermutlich besser als eingepfercht in Plem Plems engen Handtaschen.

Reini nahm einen Schluck Bier und verschüttete beim Abstellen der Flasche die Hälfte über den Tisch.

„Verdammt!“ Er sprang auf, schnappte eine Serviette und versuchte vergeblich, die Flüssigkeit damit aufzuwischen. Ich beugte mich vor, nahm den gesamten Stapel aus dem Spender und warf ihn auf die Pfütze. Sogleich sog sich das Bündel voll wie ein Schwamm. Reini ließ sich wieder in den Sessel fallen, blass und mit tiefen Augenringen.

„Sag mal“, fragte ich vorsichtig, „alles okay bei dir? Wie geht’s dir eigentlich?“

„Mir? Läuft. War kolossal nervenaufreibend, für Kjell ’nen Platz in dem neuen Heim klarzumachen, aber jetzt ist er drin und blüht richtig auf. Die haben da sogar Therapie-Ponys für die Bewohner, guck mal!“

Er fummelte sein Handy aus der Klemmtasche an seinem Gürtel und zeigte mir ein Foto. Sein behinderter Sohn stand neben einem Pferdchen, das ihm gerade bis zur Hüfte reichte, und strahlte stolz in die Kamera.

„Das freut mich! Kostet sicher ein Vermögen. Oder?“

„Kannste glauben.“ Liebevoll streichelte Reini Kjells Gesicht auf dem Display.

„Beteiligt sich Oda denn daran?“

Er winkte ab. „Die letzten Monate hab ick ihre Miete gelöhnt. Ist mau mit Kunst-Jobs in Oslo.“

Reinis Ex war Performance-Künstlerin. Ein einziges Mal hatte ich einen ihrer Events besucht. Mit weit aufgerissenen Augen hatte sie stumm in einem mit Frauen-Magazinen beklebten Sarg gelegen, welcher den Eingang des Berliner Axel-Springer-Verlagshauses verstellt hatte. Nachdem die Beziehung zerbrochen war, war sie mit dem gemeinsamen Sohn in ihr Heimatland Norwegen zurückgekehrt. Damals war Kjell acht, heute musste er Mitte zwanzig sein.

„Erzielt denn dein Haus mittlerweile Gewinn?“

Reini zog an seiner Zigarette. „So einfach ist ditt nicht. Ditt sind Freunde, die wohnen seit Ewigkeiten in der Bude, und die Kids, wo sollen die sonst hin?“

Reini überließ zwei Etagen seines nach der Wende gekauften Friedrichshainer Mehrfamilienhauses einem sozialen Verein, der obdachlose Jugendliche förderte. Kostenlos. Seine alten Hausbesetzer-Freunde ließ er dort für einen Apfel und ein Ei wohnen. Einmal hatte ich tatsächlich mit angesehen, wie er im Hofgarten gezogenes Gemüse als Mietzahlung akzeptierte.

„Ick bin zufrieden, wenn sich ditt Haus von alleine trägt, Geld ist nicht alles!“ Dabei nahm er meine Handtasche ins Visier – die kostete vierstellig. „Leider kommt ständig irgend ’ne neue fette Rechnung um die Ecke. Ick hab dir doch von dem Wasserschaden erzählt, wo die Bandproben-Räume von den Kids vollgelaufen sind. Die beschissene Versicherung hat sich mal wieder rausgewunden. Löhnen keinen Cent. Alles Ganoven und Betrüger!“ Wütend ballte er die Faust. „Aber genug von mir geschwafelt, watt machste eigentlich hier? Ick dachte, Hannes sollte ditt Wochenende betreuen?“

Ich berichtete von der vergessenen Geburtstagsparty.

„Haste dich wieder belatschern lassen?“ Reini schlug auf die Lehne des weißen Kunstledersessels. „Mach dem Fatzke klar, wer die Hosen anhat!“

„Dann rennt er zu Holtkamp. Weißt du doch.“

Reini griff seine Bierflasche und grunzte. „Pfff, Holtkamp! Der Graf Kacke soll wieder Staubsauger verhökern oder einen auf Bankfritze mimen, aber verdammt nochmal die Finger von der Mucke lassen. Keine Zähne im Maul, aber Lapaloma pfeifen. Wegen Typen wie dem ist unsere Branche so im Arsch.“

Wie wahr. Mein Vorgesetzter hatte früher einen Staubsauger-Konzern geleitet. Musik verstand er als Produkt wie Haushaltsgeräte oder Deospray. Eine Haltung, die leidenschaftlichen Musikliebhabern wie Reini und mir natürlich in der Seele wehtat.

„Du musst echt mehr auf dich aufpassen“, fuhr Reini fort, „du ackerst zu viel. Mach mal watt Schönes, Freunde treffen oder schaff dir ’nen Macker an oder ein Hobby. Watt für dich.“

Plötzlich fühlte ich mich, als würde ich im Sessel versinken und meine Kehle wurde eng. Ich blickte zu Boden.

„Hey“, Reini senkte die Stimme und legte mir sanft die Hand auf die Schulter, „Mensch, Püppi, watt ist denn los?“

Für den Bruchteil einer Sekunde wollte ich mich in seine Arme werfen und losheulen. Doch bevor es mich übermannte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel den telefonierenden Ben, drückte Reinis Hand weg und erwiderte mit fester Stimme: „Halb so wild. Hatte eh nichts vor.“

Mit zitternden Fingern tastete ich in meiner Handtasche nach dem Nasenspray, mit der anderen Hand winkte ich den Kellner heran und bestellte einen Gin Tonic.

Hastig wechselte ich das Thema: „Wie läuft es denn so mit Miss Plem Plem?“

Reini stieß die Luft aus. „Instagram hier und TikTak da.“

„TikTok“, verbesserte ich ihn.

„Watt weeß icke, ick bin zu alt für ditt Zeug. Diese ganzen Videos und Storys, ständig irgendwelche Live-Chats mit kreischenden Kindern und die Kleene aufgebrezelt wie ’ne Bordsteinschwalbe. Ick versuche ditt Beste für sie rauszuholen, aber dieser Social-Murks ist mir schleierhaft, da bin ick überfragt.“

Verständlich. Eine auf Followerzahlen getrimmte Kommerzretorte zu managen war für ihn Neuland.

„Wusstest du, dass Hannes der Kleenen diesen Sonntag ’nen Fan-Chat auf irgend so ’nem Switch- oder Titch-Portal aufs Auge drücken wollte?“

Heute Auftritt in der Schweiz, morgen bei „Rekordverdächtig!“, übermorgen Livestream auf Twitch? Ja, das klang ganz nach Hannes’ Ich-schlachte-die-Kuh-solange-das-Blut-heiß-ist-Strategie.

„Dem hab ick watt gehustet“, fuhr Reini fort, „die Kleene braucht mal ’nen freien Tag.“

Ich grinste. Miss Plem Plem profitierte also von Reinis Manager-Qualitäten – wie jeder Künstler, denn deren Wohl stand bei ihm an erster Stelle und dafür liebte ich ihn. Damit unterwanderte er zwar regelmäßig meinen Auftrag als Label-Chefin, so viel Geld wie möglich für die Firma herauszuholen, doch mein Kunst und Künstler wertschätzendes Herz jauchzte. Und endlich hatte Hannes mal einen Dämpfer bekommen.

Ich prostete ihm zu: „Auf dich!“ Er genehmigte sich einen Schluck Bier und rülpste laut.

Wenig später hockte ich zwischen Reini, Miss Plem Plem, Noah und Ben im neuen Szene-Restaurant „Success“. Der Name lockte offensichtlich jenes Publikum an, welches mich gerade umzingelte: Links von mir prahlten Start-up-Gründer, dass sie die guten alten Haferflocken bunt eingefärbt und „Regenbogengrütze“ getauft hatten und nun für acht Euro pro Löffel vertickten. Rechts überlegte man, die Krypto-Kohle des letzten Exits in ein neues Start-up zu investieren, welches das Grundwasser digitalisieren wollte.

Zwischen den zu Tischen umfunktionierten Industrie-Kabeltrommeln catwalkten Kellner mit Haardutts und Leggings herum. Einer dieser Food-Art-Kuratoren verteilte gerade sehr große Schiefersteinplatten mit sehr kleinen Appetithäppchen auf unserem Tisch. Aha, vegan. Sein asymmetrisch geschnittenes Shirt ließ die bleiche Schulter frei und trug den Schriftzug „Berlin is a fucking unicorn!“.

„Eine große Flasche stilles Wasser“, bestellte ich. „Und für dich? Bier?“

Reini nickte.

„Sorry“, meinte das bisher unentdeckte kellnernde Model, „but I don’t speak German!“

Mein Gott, wie ich diese Gentrifizierungskantinen hasste.

Noah strapazierte meine Nerven mit seiner Vorstellung von Plem Plems morgigem Show-Outfit und zeigte mir entsprechende Fotos auf seinem Smartphone. Ich schob das Teil kommentarlos weiter, Reini ignorierte es ebenfalls.

Tom Jis Freund holte ein in schwarzes Seidenpapier gewickeltes Päckchen aus seiner Jackentasche. Ein riesiger „Rich & Famous“-Aufnäher zierte die Jacke, dazu ein Balenciaga-Logo, so groß, dass meine halbblinde Oma es auf einem Kilometer Entfernung erkannt hätte. Der geschmacklose Fetzen kostete bestimmt drei Mille. Bezahlt von Plem Plems Honorar alias meinem Budget.

„Gönn dir, Schatz“, wandte er sich an Plem Plem, „das hier wird die absolute Krönung. Der totale Hingucker!“

Er schob ihr das Päckchen hin. Es enthielt ein dickes schwarzes Hundehalsband mit riesigen goldenen Lettern: „N.O.A.H“.

Stille am Tisch. Alle starrten auf das Halsband.

Ben sprach aus, was ich dachte: „Vielleicht ein bisschen groß für den Hund?“

Noah wies ihn zurecht: „Das ist nicht für Tinkerbell. Das ist für Tom Ji, als Accessoire für die Show!“

„Lieb ich!“, rief Miss Plem Plem.

Reini griff das Teil zwischen Daumen und Zeigefinger und hob es in die Luft. „Die Kleene mit Hundehalsband? Ick glaube, es hackt. Ditt kannste voll vergessen!“

Noah zeigte ein überraschtes Gesicht. „Wieso? Das ist mega-in!“

Ich stopfte mir etwas in den Mund, das anmutete und schmeckte wie Fleisch, in Anbetracht dessen, dass wir uns in einem veganen Restaurant befanden, allerdings tierfrei sein musste, und lehnte mich kauend zurück. Das sollte mal schön Reini regeln. Auf den war bei solcherlei Stilverirrungen Verlass. Das hätte mit Hannes am Tisch anders ausgesehen.

Reinis Handy klingelte und nach einem Blick auf das Display stürmte er nach draußen.

Deswegen verpasste er den folgenden Sandkastenkrieg. Der begann relativ harmlos mit Plem Plems vorsichtigem Einwand: „Hasi, das Teil ist wirklich Gold, aber für morgen, für die Show … na ja, ich hab mir das Outfit da ein bisschen anders vorgestellt.“

Sie zeigte ein Instagram-Foto, das ganz und gar nicht zu ihrem gewohnten Styling passte: Ein dunkelhaariges Mädel lächelte vollkommen ungeschminkt in die Kamera, einzig ihr Lippenstift leuchtete rot. Dazu trug sie eine schlichte Bomberjacke, kurz unterhalb der Knie abgeschnittene graue Jogginghosen und rote Stilettos.

Noah schnappte das Handy, kommentierte das Bild mit „mega cringe“ und pfefferte das Gerät in die Tischmitte.

„Ey, bist du doof?“, fiepste Tom Ji. „Das ist Kylie!“

Keine Ahnung, ob sie ein Modelabel meinte oder ob das Mädchen auf dem Bild eine der unzähligen Kardashians zeigte. Eventuell hatten Plem Plem und Noah ihren Telefonen auch Namen gegeben. Diesem Duo traute ich alles zu.

„Du bist total lost“, ätzte der Handywerfer zurück, „wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“

Oha, jetzt zitierte der schon Karl Lagerfeld. Meine persönliche Meinung zu dem Modezar lautete, dass man den Gipfel des Kontrollverlustes erreichte, wenn man sein Vermögen einer Katze vererbt – aber man soll die Toten ruhen lassen.

So setzte sich das fort, bis Reini nach frischem Nikotin stinkend zurück zum Tisch schlich und sich die schweißnasse Stirn rieb.

„Alles okay?“, flüsterte ich ihm zu.

Er seufzte.

„Der Schlamassel mit der Töle macht mich kirre.“

Kümmerte er sich etwa nach wie vor um Tom Jis Hund? Was war denn mit dem los?

Er sank auf den Stuhl und trank sein neues Bier direkt aus der Flasche anstatt aus dem vom Lokal dafür vorgesehenen Marmeladenglas mit Kupferrohr als Strohhalm.

Tom Ji piepste mit Tränen gefüllten Augen: „Darf ich mal auf Klo?“

„Kleene, wie oft soll ick dir verklickern, dass du nicht jedes Mal fragen musst, wenn du irgend watt machen willst!“

Sie schlich mit hängenden Schultern von dannen.

Reini wandte sich an Noah. „Watt geht hier ab?“

Der verzog die Mundwinkel. „Die blöde Kuh denkt echt, dass …“

„Mein lieber Freund und Kupferstecher!“, Reini hob drohend den Zeigefinger. „Ball flach halten. Watt hab ick dir heute Morgen erst erzählt? So quatscht man nicht über seine Perle.“

Noah zog sein Unterlippen-Piercing in den Mund und kaute darauf herum.

Als Tom Ji mit verwischtem Kajal von der Toilette zurückgekehrt war, ließ Reini deutliche Worte ab: „Ist euch klar, watt ‚Rekordverdächtig!‘ für Tom Jis Karriere bedeutet? Ganz Deutschland hockt vor den Bildschirmen, live! Deswegen muss morgen alles flutschen bis ins kleinste Detail! Die paar Minuten Herrwitz entscheiden, ob es weitergeht oder ob wir alle die Fliege machen.“

Plem Plem murmelte betreten: „Sorry!“

„Das Halsband ist doch ein kleines Detail!“, grummelte Noah, allerdings bereits um ein Vielfaches leiser. Seine Freundin schob ihre Finger auf seinen Handrücken. Er zog die Hand weg.

„Sagt mal“, mischte sich Ben vorsichtig ein, „ich dachte, das Outfit ist schon seit Wochen abgesprochen. Hannes hatte das ausgesucht, oder?“

„Ja“, wisperte Plem Plem mit piepsiger Stimme, „aber …“ Sie druckste herum. „Ich fühl mich in dem Kleid unwohl.“

Kein Wunder. Hannes die Auswahl eines Künstleroutfits zu überlassen, erbrachte dasselbe Ergebnis, wie einem Kleinkind eine Kettensäge in die Hand zu drücken und zu sagen: „Bastel mal was Schönes.“

„Scheiß auf den Fummel. Wir bequatschen jetzt erstmal den Ablauf“, beendete Reini das Thema. Er breitete einen Stapel Papiere auf dem Tisch aus: Einen Grundriss des TV-Studios, mehrere Listen und einen Zeitplan, der minutiös vorgab, wie der morgige Tag laufen würde.

Mein freier Tag!

Dieser begann mittags mit der Performance-Probe von Plem Plems Single. Zum Glück würde sie nur tanzen und die Lippen zum Vollplayback bewegen, denn Hannes’ neueste Künstlerin vermochte eine Sache leider überhaupt nicht: singen.

„Die hat zwei Millionen Follower und tanzt wie ein Profi!“, hatte er seine Entdeckung in unserer A&R-Team-Sitzung angepriesen und uns ihr Profil bei TikTok gezeigt, wo Tom Ji mit ihren Lady-Gaga-Imitationen als absolute Überfliegerin hervorstach.

Klar, Reichweite. Das Gold des neuen Zeitalters. Und der einzige Grund, warum Leute wie Hannes überhaupt neue Künstler signten: weil diese seine Marketing-Arbeit schon selbst erledigt hatten und er nur auf den Zug aufspringen und die Hand aufhalten musste.

Mein von Hannes, alias Dr. Copy, Leid gewöhntes Trommelfell vernahm nach wenigen Takten der durch unseren Meetingraum pumpenden Single, dass ihr piepsiges Stimmchen kaum einen Ton traf, was mein lästiger Schatten mit einer satten Ladung Autotune und gefühlt hundert Pitch-Effekten hatte kaschieren lassen. Mit Follower-, Stream- und Verkaufszahlen um sich werfend beschmutzfinkte er ein Flipchart mit seiner „Mega-Selling-Vision“: der Positionierung von Tom Ji Yeoung als deutsche Lady-Gaga-Kopie und K-Pop-Star.

Ich kommentierte zynisch: „Breite Aufstellung, wickle sie zusätzlich in eine Regenbogen-Flagge und du hast das volle Programm!“

Der Idiot nickte zustimmend. „Geile Idee, da brennt die LGBT-Hecke lichterloh!“

Mir wurde es zu bunt: „Gibt es eigentlich irgendein Zugpferd, das vor dir sicher ist?“

Hannes schoss zurück: „Wake up! Die Zeiten deiner Superstars sind vorbei, es ist eine neue Ära angebrochen: Kunst ist Content und den kann everybody abliefern, Darling, wenn …“, er hielt seinen Besen mit zwei Händen und bewegte ihn wie eine Malerstange, „Papa dem Material den entsprechenden Anstrich verpasst!“

A&R-Chef Patrick fuhr dazwischen: „Stopp, Leute! Das ist dieselbe Diskussion wie neulich und wir hatten uns mit Holtkamp darauf verständigt, dass ihr euch künstlerisch in Ruhe lasst.“

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Halte durch, Finnya! Der Oberchef würde sich hoffentlich bald in den Ruhestand verabschieden und sobald ich in seine Fußstapfen getreten war, würde es heißen: Goodbye Kommerzschrott!

Ein kräftiger Stoß Nasenspray und ich lenkte ein: „Ist nur meine Meinung, am Ende entscheidet Hannes natürlich über seine Signings!“

Der Pfuscher nahm seinen Hirnfurz wieder auf: „Wie gesagt, die Kleine lasse ich auf Deutsch und Koreanisch trällern, so was hat bisher keiner gebreakt, das Tier wird groß – aus der forme ich den deutschen Psy!“

In der nächsten Sekunde entgleiste er vollends, klemmte sich seinen Besen zwischen die Schenkel und ritt „Gangnam Style“ grölend um den Meetingtisch.

Ich versuchte die Erinnerung an dieses folgenschwere A&R-Meeting abzuschütteln und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück in die Restaurant-Runde.

Reini erklärte gerade das Konzept der Show: „Unbekannte Flitzpiepen treten an, um neue Weltrekorde aufzustellen, während Herrwitz irgendwelchen Promis ’ne Bulette ans Ohr labert.“

Er tippte auf einen Grundriss des TV-Studios.

„Hier ist die Couch für die Talks, ditt ist der Bereich für die Rekordversuche und ditt hier ist die Bühne. Da machste die Choreo, die ihr geprobt habt.“

Ben kritzelte eifrig in ein Notizheft, Möchtegern-Stylist Noah schmollte und spielte mit einer dicken Goldkette, die in riesigen Lettern sein Berufsziel auswies: „INFLUENCER“. Zu meiner Zeit hieß das Schnorrer.

Plem Plem gab zaghaft zu bedenken: „Die Bühne hat ja einen ganz anderen Aufbau wie bei den Proben?“

„Mach dir mal keenen Kopf, Kleene.“ Reini legte einen Arm um sie und rubbelte ihr die Schulter. „Ditt schaffste. Danilos Truppe ist schon vorher da und kleben dir Tape auf den Boden für die Positionen.“

„Wer ist Danilo?“, fragte ich mit vollem Mund.

Reini, der einzige Mensch auf der Welt, der gedruckte Fotos besaß,

zog ein Bild hervor. Mir grienten fünf braungebrannte, muskelbepackte Südländer entgegen, offenbar den Chippendales entlaufen. Mittig posierte der Ober-Muskelprotz mit Dreitagebart.

„Die tragen auch Halsbänder!“, maulte es aus Noahs Ecke.

Das stimmte und es waren so gut wie die einzigen Kleidungsstücke, wenn man von den knallengen Höschen absah, die aus etwa genauso viel Stoff bestanden wie ihre Gurgelbändchen.

„Ihr habt Tänzer dabei?“ Ich fächelte mit dem Foto. „Wer hat denn diese Go-go-Boys ausgesucht?“

„Dreimal darfste raten!“ Reini nahm einen Schluck Bier und wischte sich feine Tröpfchen vom Kinn.

Klar. Hannes zog das volle Programm ab. Eine aufgebretzelte Minderjährige umringt von halbnackten Testosteron-Schwengeln. Sex sells. Ich seufzte, warf das Bild zurück auf den Tisch und orderte Wein. Für Tom Ji gab es Limonade.

Reini fuhr fort: „Nach deiner Performance-Probe kommt Herrwitz in unsere Garderobe, denn der will seine Gäste vor der Show immer erstmal persönlich treffen. Danach geht’s auf die Studiocouch, das Interview proben.“

Plem Plems Augen leuchteten auf: „Ist da die Cheyenne dabei?“

Reini bestätigte dies.

Sie juchzte und klatschte in die Hände. „Überkrass! Cheyenne Vegas. Boah, ich treffe Cheyenne in echt!“ Sie drehte sich zu Noah, der mit vorgeschobener Lippe auf die Tischplatte starrte, und verstummte.

Da der über siebzigjährige Herrwitz lediglich Leute aus der Zielgruppe „Als-wir-noch-SMS-aus-dem-Handy-Speicher-löschen-mussten-um-Neue-zu-bekommen-ich-war-dabei!“ erreichte, hatte man ihm die einflussreichste deutsche Influencerin als Co-Moderatorin auf’s Auge gedrückt – das sicherte der Sendung die Megaquote.

„Da erreicht man Jung und Alt gleichzeitig“, hatte Hannes gejohlt, seinen Besen wie ein Gewehr geschultert und Abschüsse simuliert. „Wir targeten alle, einfach jeden. Das ist ein Must-have, da müssen wir mit einem unserer Artists rein!“

Ich musste ihm ausnahmsweise einmal zustimmen.

Die ganze Branche lieferte sich einen erbitterten Kampf, die eigenen Schäfchen auf der Herrwitz’schen Musikbühne zu platzieren. Ein schwieriges Unterfangen, denn der Showmaster duldete einzig Künstler, die das letzte Mal beim Mauerfall performt hatten. Dass der neue TV-Promoter Ben es trotzdem geschafft hatte, unsere deutsche Newcomerin Miss Plem Plem in die Show zu bugsieren, war DIE Sensation.

Reini zog eine Liste aus dem Papierstapel. „Mal sehen, wen der Blaffke vor dir belatschert: Til Schweiger, Paris Hilton und Mariah Carey.“

Plem Plem schien zu überlegen und fragte unsicher: „Wer ist Til Schweiger?“

Reini winkte ab. „Ne Pissnelke.“

Ich grinste. Vermutlich trat der Schauspieler an, um Kokowääh Teil 543 zu promoten. Ich überflog die Gästeliste und wandte mich an Reini: „Warum laden die seit zwanzig Jahren dieselben Gäste ein? Die sollten die Sendung umbenennen in ‚Live-beim-Sterben-zusehen‘.“

Er reagierte patzig: „Fass dich mal kürzer, über’n Tod macht man keene Witze!“

Huch, was war denn mit dem los?

Plem Plem tippte auf Paris Hiltons Namen und kommentierte: „Ich wollte schon immer mal neben ’nem Avatar sitzen!“

Dank meiner jüngeren Mitarbeiter ahnte ich, wovon sie sprach: Seitdem Paris ihr Haltbarkeitsdatum als IT-Girl überschritten hatte, geisterte sie als virtuelle DJane durch die Weiten des Internets. Sie würde als Avatar bei „Rekordverdächtig!“ auftreten?

Reini zerstörte meine Hoffnung auf ein Fünkchen Innovation in der Sendung: „Quatsch Avatar, das verwöhnte Gör kommt persönlich!“

Worauf Plem Plem ihr Telefon ergriff und die Li-La-Loonatix in die sensationelle Neuigkeit einweihte, dass die „Queen of Metaverse“ ein realer Mensch war. Gott, manchmal beschlich mich das Gefühl, dass die neue Weltordnung der Digital Natives an mir vorbeiraste wie ein Schnellzug und ich den Anschluss verpasst hatte.

Ich erkundigte mich nach einem Script der Talk-Fragen.

Reini schnaubte laut aus. „Null Chance, kennst ja die Penner!“

Ich kannte sie. Normalerweise bekam man vor jedem Interview einen Überblick, welche Fragen gestellt werden würden, Herrwitz hingegen hielt seine Karten bedeckt.

„Thorty liebt es spontan und authentisch“, äffte Reini die Produktionsleitung der Show nach. Er kippte sein Bier in einem Zug herunter und rülpste laut und ziemlich genau ins Gesicht des Kellners, der gerade die Hauptgerichte abstellte. Die entpuppten sich als unwesentlich größer als die Appetithäppchen.

Reini erklärte die Probe als reines Blabla und dass die echten Fragen erst beim Live-Interview ausgepackt würden. „Zieh einfach alles genau so ab, wie du das bei den Coachings geübt hast: ruhig bleiben, lächeln, unverfänglich antworten.“

Plem Plem nickte artig und stopfte sich auf einer Mausefalle angerichteten Tofu-Käse in den Mund. Noah saß unbewegt, die Arme vor der Brust verschränkt und ignorierte sein Essen. Ich hatte das plötzliche Bedürfnis, ihn an seinem beschissenen Nasenpiercing zu packen und vornüber in die Soße zu tunken. Eine schöne Fantasie. Reinis Handy klingelte. Er blickte aufs Display, zuckte erschrocken zusammen und stolperte ins Freie. Durch das Fenster beobachtete ich, wie er vor dem Restaurant auf und ab marschierte, wild gestikulierte und den Anrufer ungehalten anschrie. Im nächsten Moment schien er angestrengt ins Telefon zu lauschen und hielt sich die Stirn. Als er zurückkehrte, sah er blass und verwirrt aus.

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Der Hund, weeßte, dieser Hund!“, stotterte er und fuhr sich nervös durch die Haarsträhnen. Er schien den Faden verloren zu haben.

Was war bloß los?

Ben übernahm und ratterte, ohne seine Notizen zu würdigen, den Zeitplan herunter: „13:00 Performance-Probe, anschließend Kennenlernen mit Herrwitz in der Garderobe, 16:30 Talk auf der Couch üben. 20:15 Beginn der Liveshow.“ Die Infosalve dauerte noch eine Weile und endete mit: „21:35 Performance der Single. Fertig.“

Ich stieß einen überraschten Pfiff aus. Ben winkte ab und stellte fest: „Bloß Zahlen, dafür habe ich ein fotografisches Gedächtnis.“

Wow. Ich war unfähig, mir meine eigene Handy-Nummer zu merken.

„Und dann?“, erkundigte sich Plem Plem.

Alle Augen richteten sich auf Reini.

Der wirkte, als wäre ihm unklar, wo er sich gerade befindet.

„Genau, äh, das flutscht morgen schon“, murmelte er und tippte auf seinem Handy herum.

Einer der kellnernden Einhorntrainer wollte wissen, ob wir Nachspeisen wünschen. Das Konzept des Schuppens hatte ich inzwischen kapiert und bestellte mir gleich zwei Portionen.

Plem Plem meldete sich schüchtern: „Alles verstanden. Können wir nochmal über das Outfit sprechen? Ich, äh …“ Sie stotterte herum und hauchte: „… genier mich so in dem Kleid.“

„Zeig mal her!“, forderte ich sie auf.

Ihre Handy-Aufnahmen präsentierten eine bodenlange Schamlosigkeit mit transparenten Dekolleté- und Po-Einsätzen. Hannes hatte sich mal wieder selbst übertroffen.

„Watt?“, fragte Reini und unterbrach seine Tipperei. „Ach ja, ditt Kleid.“

Ich hielt ihm das Foto ins Gesicht. „Soll das für die Performance sein oder für den Talk?“

„Performance. Beim Talk trägt sie ’ne Hose.“

Ich konnte es kaum glauben. „Habe ich richtig verstanden, dass der Auftritt mit Tanzchoreo stattfindet? In diesem hautengen Ding?“

Reini schien ein Licht aufzugehen und er erkundigte sich bei seiner Künstlerin, ob sie die Choreo mit Bühnenoutfit geprobt hatte.

Sie schüttelte den Kopf.

Wir starrten erneut auf das Kleid. Völlig egal, ob Plem Plem sich darin wohl fühlte, tanzen war in dem Fetzen definitiv unmöglich.

„Mist“, Reini wandte sich an mich, „wo kauft man denn morgen früh schnell eine neue Klamotte?“

Outfits shoppen – bei mir bedeutete das ab in den Fahrstuhl und schnurstracks in die dritte Etage des KaDeWe zu Timo. Zweimal im Jahr legte der kaufhauseigene Shopping-Guide mir im Séparée bereit, was mir gefiel: schlichte Hosenanzüge in Schwarz, Grau oder Dunkelblau. Mit dem Kommentar „Probier doch einmal was Neues!“ schmuggelte er mir manchmal etwas Farbe in Form einer grünen Bluse oder roter Schuhe unter und schwärmte: „Das ist von Christian Lacroix!“ Mir schnuppe, Hauptsache, es passte.

Morgen Plem Plem und Noah in das Luxus-Kaufhaus entsenden? Bei dem Gedanken, dass das Duo sich durch die Designerteile wühlte und mir später die Rechnung präsentiert wurde, bekam ich Hitzewallungen.

Deswegen behauptete ich: „Keine Ahnung. Ich kauf alles online.“

Ben empfahl den Hackeschen Markt als Shopping-Paradies und Reini entschied: „Gut, da steppen wir morgen früh mit Finnya hin!“

Entgeistert fuhr ich herum. „Wieso mit mir?“

„Mit wem sonst? Shoppen ist watt für Frauen.“

Das fehlte mir gerade noch. Ich als schleppender Kleiderständer, Plem Plem überfordert von der Auswahl und dazu das Halsbandgesülze der gepiercten Frettchen-Fresse? Ohne mich!

Fieberhaft suchte ich nach einer Ausrede, die mich vor diesem Horrorszenario bewahrte. Ben rettete mich: „Meine Freundin ist Stylistin. Die ist ’ne super Shopping-Begleitung und bestimmt gern dabei!“

Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Perfekt, so machen wir das!“

Reini willigte ein und wandte sich an Ben, um zu besprechen, wann, wo, welches Taxi aufschlagen würde, um wen abzuholen.

Plem Plem jauchzte und hielt mir ihr Handy hin. „Gucken Sie mal, das würde mir gefallen.“ Mit gesenkter Stimme: „Vorausgesetzt, Sie sind einverstanden.“

Das Display zeigte tatsächlich eine der Kardashians.

Welche? Keine Ahnung, die sahen alle gleich aus. Ich stellte mir die Entstehung der Sippe so vor: Mutter Kris lag auf dem Schönheits-OP-Tisch, neben ihr ein Schweißperlen-übersähter Chirurg, der einen riesigen Klumpen Silikon in die Form eines Menschen knetete und sich erkundigte: „Ihre entfernte Rippe könnte ich der Neuen als Arm annähen, wie soll sie denn heißen?“

„Egal, Hauptsache, mit K, wie Klon!“

Auf Plem Plems Handy-Display trug der Klon ein schlichtes schwarzes Trägerkleid und flache Sandalen. Vor meiner Nase swipte sie zu ähnlich dezenten Stylingideen. Ich bemerkte, dass ihre Hand zitterte.

Urplötzlich jaulte Noah auf: „Tom Ji, du hast null Plan, wie viel Zeit ich investiert habe, allein die Buchstaben zu besorgen! Ich dachte, du freust dich. Du bist voll der Einundreißiger!“

Mit einem klatschenden Geräusch landete das Halsband auf dem Boden, Noah hechtete Richtung Toiletten.

Plem Plem hinterher.

„Einundreißiger?“, fragte ich.

„Verräter“, übersetzte Ben und machte Anstalten, dem Paar zu folgen.

Ich legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. „Lass die das untereinander regeln!“

In meiner Laufbahn hatte ich gelernt mich aus Beziehungsstreits rauszuhalten. Zudem war ich, was jene anging, hoffnungslos abgestumpft:

Ich hatte DJs auf ihre Plattenteller kotzen sehen, während Go-go-Girls ihnen unter dem DJ-Pult einen bliesen und die aufgelöste Ehefrau daneben mit einer Rasierklinge drohte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Der gute Noah musste schon mehr auffahren, um das zu toppen.

Reini rollte entnervt die Augen. „Ditt geht die ganze Zeit so. Neulich hat der Eumel der Kleenen ihr Handy abgenommen und sie im Hotelzimmer eingesperrt. Drei Stunden Sucherei, bis ick sie gefunden hatte!“

„Wieso hat sie keine Hilfe gerufen?“, fragte ich ungläubig.

„Die saß apathisch da und hat geflennt. Dem hätt ick fast eine vors Fressbrett geschoben, dem Bengel, ditt kannste glauben.“

Er kippte ein weiteres Bier hinunter, ich schnappte mir Noahs unberührtes Dessert: auf Bio-Watte angerichtetes Kresse-Eis.

Reini seufzte und klopfte Ben auf die Schulter. „Respekt, dass du Herrwitz die Kleene untergejubelt hast, Alter. Ditt soll dir erstmal einer nachmachen!“

Sein Lob kam in der Branche einem Ritterschlag der Queen gleich.

Ben richtete sich auf und schien auf einmal doppelt so groß. „Danke, das war eigentlich recht einfach.“ Dann deutete er unvermittelt auf Reinis abgewetzte, hellbraune Kutte. „Coole Jacke! Sind das die ‚Goldenen Zitronen‘?“

Reini reckte das Kinn zum Ärmel und nickte. Sticker und Autogramme von allen namhaften Rock- und Punkbands zierten die Jacke, sein Markenzeichen. Ich vermutete, sie war angewachsen.

Es folgte ein Schlagabtausch zum Song „Für immer Punk“, einer Coverversion des Alphaville-Hits „Forever Young“ und der Kult-Hit der Zitronen. Reini feierte, wie „die Band sich treu geblieben seien, indem sie die Fatzkes der Major-Label über den Jordan gejagt hätten“, und Ben hing an seinen Lippen, als er die wilden Zeiten im KZ36, einem Punk-Schuppen in der Waldemarstrasse in Kreuzberg, schilderte.

Er schloss mit: „Bin ick ja baff, dass so ’n junger Piepel wie du sich mit Punkrock auskennt. Aber ick hätte auch nie geglaubt, dass die Popelbremsen wieder modern werden!“ Er zeigte auf Bens Vollbart und grinste.

„Tja, so spare ich mir jeden Morgen diese neumodische männliche Gesichtspflege und darf länger schlafen!“

Ich schmunzelte, Reini lachte laut los, wobei ein dröhnend knatterndes Geräusch ertönte. Ich wusste, was das bedeutete, und hielt mir die Hand vor die Nase, und tatsächlich: Ein übelriechender Gestank breitete sich aus. Reini hatte gefurzt.

„Sorry“, entschuldigte er sich in Bens Richtung, „ditt ist seit ’ner schief gelaufenen Hämorrhoiden-OP leider unkontrollierbar.“

Ben wedelte wild vor seiner Nase herum. Dabei stieß er die Tischdekoration um und der Strauß landete in Reinis Schoß.

„Ups!“, kommentierte er sein Versehen. „Na da würde ich mal schätzen, ich habe den Gestankherd mit Veilchenduft schachmatt gesetzt.“

„Sind quitt“, bestätigte Reini und wir lachten alle drei.

Nachdem Reini die zankenden Verliebten aus der Herrentoilette bugsiert hatte, warteten wir vor dem Lokal auf ein Taxi. Der Mond spiegelte sich auf dem regennassen Backsteinpflaster der kleinen Gasse.

Noah zog eine Fresse und ätzte auf Tom Ji ein. Die hatte von Tränen verschmierte Wimperntusche und presste schweigend die Lippen aufeinander.

Alle schraken zusammen, als in Bens Jackentasche eine Sirene losging.

„Sorry, mein Wecker!“ Ben beendete den Alarm seines Telefons, zog einen Behälter aus dem Rucksack und drückte ihn Tom Ji in die Hand. „Hannes hat mir was mitgegeben, damit sollst du um Punkt zweiundzwanzig  Uhr eine Sponsored Story machen.“

Tom Ji nahm den Gegenstand entgegen und wollte wissen: „Was ist das?“

Wir betrachteten die blaue „Coral“-Flasche.

„Weichspüler“, entnahm Ben seinem Notizheft.

„Okay“, nickte Tom Ji, tupfte sich fix die Augen ab, hielt sich ihr Smartphone ins Gesicht und legte mit strahlendem Lächeln los: „Hey Li-La-Loonatix! In den letzten DMs hatten voll viele gefragt, wie ich meine Haare so schön weich kriege, und das ist die Antwort!“ Sie drückte sich die bauchige Flasche an die Wange, verpasste dem blauen Plastik ein Küsschen und las ab: „Super langanhaltender Duft nach Wasserlilie und Limette. Schreibt mir in die Kommis, wie ihr es findet! Wir sehen uns bald wieder, ja? Hallyu ist für alle da!“

Kamera aus und sie wirkte ebenso traurig wie vorher.

„Äh …“, begann Ben.

Mit einem Seitenblick auf Plem Plem flüsterte ich: „Lass das arme Ding, jetzt ist mal Feierabend. Sie trägt Kunsthaarperücken, die pflegt man tatsächlich mit Weichspüler!“

Reini schlug vor, irgendwo einen Absacker zu nehmen.

Tom Ji ließ sich davon aufmuntern und schwärmte: „Au ja, Berlin ist so cool, die ganzen Locations von TikTok in echt!“

Wieder meldete sich Reinis Handy und er entfernte sich ein Stück.

Mit vor Aufregung rosigen Bäckchen erklärte Plem Plem, sie würde „voll gerne mal in die Squeezer Sky Lounge rein, denn da hat Lady Gaga gefeiert, das hat sie in ihrer Story gepostet.“

„Nee, ich will ins Hotel“, quengelte Noah, „mir reicht es für heute!“

Willkommen im Club.

„Watt soll ditt heißen, der hat Feierabend, ick werd gleich drei Meter!“, hörte ich Reini aus der Ferne lamentieren. „Keen Wunder, dass ihr Pfeifen fünfzehn Jahre gebraucht habt, um diesen Schrotthaufen von Flughafen zusammenzuzimmern. Jetzt holen Sie mir den Chef von Ihrem Saftladen ran, ansonsten statte ick Ihnen gleich einen persönlichen Besuch ab!“

„Hör zu“, sanft nahm ich Ben beiseite, „ich fahre jetzt nach Hause. Du bringst die Truppe hier für ein Stündchen ins Soho House. Ein Drink, für die Künstlerin natürlich ohne Alkohol, und sie ist Punkt dreiundzwanzig Uhr zurück in ihrem Hotelzimmer.“

Ich sah ihn eindringlich an.

„Keine Ahnung, was mit Reini los ist. Der hat sich in diese Hundegeschichte verbissen und scheint deswegen völlig neben der Spur zu sein. Es ist besser, wenn du die Verantwortung übernimmst. Schaffst du das?“

„Geht klar“, versicherte Ben.

Ich verabschiedete mich und stieg ins nächste Taxi.

Die Fahrerin beklagte ihre Mittagspause: in ihrer Abwesenheit hatte jemand ihrem Wagen eine saftige Beule verpasst und als Krönung Fahrerflucht begangen.

Ich fühlte mit ihr. Mein Tag war ebenfalls anders verlaufen, als erwartet. Vor meiner Wohnanlage angekommen, gab ich ihr zwanzig Euro Trinkgeld.

„Echt jetzt? Danke!“ Ihre Augen strahlten. „Na, dann mache ich jetzt Feierabend, wir haben uns das Wochenende verdient, was?“

Verdammt, sie traf genau in die Wunde. Von wegen Wochenende. Mir stand ein gruseliger Tag bevor.

Wie gruselig, lag zu diesem Zeitpunkt allerdings außerhalb meiner Vorstellungskraft.

Corie Emm Die Plattenbossin Roman

Kapitel 5

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, galt der erste Blick meinem Handy, das neben mir auf dem Nachttisch lag.

Nichts.

Weder eine Nachricht noch ein verpasster Anruf. Zum hundertsten Mal kontrollierte ich die WhatsApp, in der ich Ian gestern Mittag geschrieben hatte, dass unser für heute geplantes Abendessen leider ausfallen würde: zwei blaue Häkchen. Er hatte sie gelesen.

Ich legte das Handy neben mich auf das Kopfkissen, rollte mich ganz klein zusammen und vergrub mein Gesicht in der Armbeuge.

Wir hatten uns erst ein einziges Mal getroffen, in einer niedlichen Wein-Bar mit romantischer Aussicht auf die schmiedeeiserne Admiralsbrücke. Vorher hatten wir einige Wochen in einer Partnerbörse gechattet. Als Erkennungszeichen schlug er vor, unsere derzeitigen Lieblingssingles mitzubringen, welch kreative und charmante Idee! Ich erschien mit einer White-Label-Vinyl, Jay Z’ neuester Track „We will always be …“, Ian hielt Beyonces „Drunk in Love“ in der Hand. Das musste ein Zeichen sein!

Der Abend verlief wunderschön. Ian erwies sich als witzig, intelligent und geleitete mich gegen Mitternacht am pechschwarz und still in der Nacht liegenden Landwehrkanal entlang nach Hause. Dort legte er mir ganz sanft die Arme um die Schultern. Seine Hände fühlten sich groß und warm an.

„Finnya“, flüsterte er und blickte mir tief in die Augen, „ich muss dich unbedingt wiedersehen!“

In den folgenden Tagen hatte ich diesen Satz ununterbrochen in meinem Kopf abgespult und dabei jedes Mal die Wärme seiner Hände gespürt. Wir schrieben fleißig hin und her, ich hetzte von einem Geschäftstermin zum nächsten und versuchte verzweifelt, Zeit für unser nächstes Treffen freizuschaufeln. Heute Abend! Bedauerlicherweise hatte sich nun „Rekordverdächtig!“ dazwischen gedrängelt.

Und Ian antwortete nicht.

Vielleicht war er sauer oder fühlte sich zurückgewiesen. Ich überlegte, ob ich ihm eine weitere Nachricht senden oder gar anrufen sollte. Ich ergriff das Handy und suchte seinen Kontakt heraus. Unschlüssig verweilte mein Daumen über dem grünen Anruf-Button. In Zeiten von WhatsApp galt ein schnöder Anruf entweder als altbacken oder aufdringlich. Schließlich traute ich mich. Es läutete. Niemand hob ab, auch keine Mailbox. Ich schob das Telefon unter mein Kopfkissen.

Ein stechender Schmerz flammte in meinem unteren Bauchraum auf. Schnell legte ich meine Hand auf die rechte Seite. Meine Blinddarm-Narbe. Warum die Narbe mich immer wieder schmerzte, blieb mir ein Rätsel, denn sie ist uralt.

Ich war etwa neun Jahre alt gewesen, als der Sohn der Freundin meines Vaters mit einer Gehirnhautentzündung im Krankenhaus gelegen und seine Mutter zwei Wochen in seinem Krankenzimmer über ihn gewacht hatte.

Ich konnte die wenigen Male, die ich meine leibliche Mutter getroffen hatte, an den Händen abzählen. Dunkel erinnerte ich mich an eine Zeit, in der ich in ihren Armen gelegen und mich in ihren Augen gespiegelt hatte, doch dies schien wie ein ferner verschwommener Traum. Seit der Trennung, bei der sie mich und meinen Vater zurückgelassen hatte, meldete sie sich kaum bei uns, ignorierte meine Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter und sagte geplante Treffen regelmäßig ab.

Als ich in der Schule erfuhr, dass eine Klassenkameradin im Krankenhaus lag, weil sie Bauchschmerzen hatte, flunkerte ich meinem Vater am selben Abend vor, dass mir der Bauch entsetzlich wehtue. Ich jammerte die ganze Nacht und behauptete am nächsten Morgen, die Schmerzen seien nun so stark, dass ich kaum mehr laufen könne. Mein Vater brachte mich sofort in die Notaufnahme.

Dort drückte der Arzt auf meinem Bauch herum. Wo genau es mich schmerze, wollte er wissen.

„Überall, einfach überall“, wimmerte ich.

„Herr Staiger“, wandte sich der Doktor an meinen Vater, „klare Diagnose: Der Blinddarm muss raus!“

„Ja!“, stimmte ich zu.

Dass ich damit eine Operation forcierte, die bedeutete, dass man mir den Bauchraum aufschnitt und ich fortan mit einer frisch vernähten Wunde ausschließlich auf dem Rücken im Bett liegen musste, wurde mir erst klar, als die Wirkung der Narkose abebbte.

Auch, dass mich nun echte Schmerzen peinigten. Hilflos und leidend lag ich ans Bett gefesselt, unfähig alleine zur Toilette zu gehen. Jeden Tag lag ich meinem Vater in den Ohren, ob er meiner Mutter von meinem Krankenhausaufenthalt berichtet habe und wann sie endlich kommen würde.

„Schauen wir mal“, war er ausgewichen, „ich glaube, deine Mama hat gerade viel zu tun.“

Meine Mutter hatte mich kein einziges Mal besucht.

Ich presste die Hand an die alte Wunde und krümmte mich zusammen, als ein gedämpftes Miauen erklang. Deli!

Mit einem Ruck setzte ich mich auf und drückte einen Knopf, der in meinen Nachttisch eingelassen ist. Die Jalousien meiner Panoramafenster fuhren nach oben und gaben den Blick auf die in der Morgensonne ruhenden Dächer der Stadt frei. Auf der Terrasse, die mein Loft direkt am Kreuzberger Paul-Linke-Ufer säumt, saß ein stattlicher, rot getigerter Kater und zwinkerte mich aus leicht verklebten Augen an.

Er war vor einigen Jahren das erste Mal aufgetaucht und ich hatte zunächst geglaubt, er sei entlaufen. Auf meine ausgehängten Zettel hatte sich niemand gemeldet, darum verlebten wir ein gemütliches Weihnachtsfest zusammen. Mein schönstes Weihnachten seit Ewigkeiten! Heiligabend besuchte ich gemeinhin meinen Vater, der nach meiner Mutter und darauffolgenden gescheiterten Beziehungsversuchen zu einem zurückgezogenen Eigenbrötler mutiert war.

Den ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag verbrachte ich immer allein zu Hause und es gab weit und breit weder Arbeit noch Meetings oder Geschäftsessen, mit denen ich mich hätte ablenken können.

Jenes Weihnachten wartete allerdings ein kuscheliger Stubentiger daheim und ich fuhr richtig auf: Ich servierte ihm feinste Gänseleberpastete und kochte uns beiden heiße Schokolade mit einem großen Schuss Sahne (und Rum für mich). So hingen wir mit vollen Bäuchen im Wohnzimmer vor meinem überdimensionalen Flatscreen, zogen uns die „Queen“-Filmbiografie rein und ich klärte meinen Kompagnon über einige falsche Fakten des Streifens auf, so zum Beispiel, dass Bassist John Deacon kein Gründungsmitglied, sondern vierte Wahl war und dass Freddie Mercury erst nach dem legendären Live-Aid-Konzert von seiner tödlichen HIV-Diagnose erfahren hatte.

Das flauschige Knäuel neben mir beantwortete meine Erläuterungen mit einem gleichmäßigen Schnurren und ich kuschelte mich zufrieden in die Couch, eine Hand auf dem warmen, weichen Fell meines neuen Mitbewohners.

Da ich den Kater anfangs für eine Katze hielt, verpasste ich ihm als Hommage an diesen wunderbaren Weihnachtsabend mit Katzenfreak Freddie Mercury den Namen dessen Lieblingskatze: Delilah. Als ich meinen Geschlechter-Irrtum bemerkte, änderte ich ihn kurzerhand auf „Deli“.

Als Deli zu Neujahr überraschend wegblieb, war ich völlig außer mir. Rastlos durchkämmte ich meinen Wohnblock, rief in Tierstationen und Heimen an und lag nächtelang wach.

Einige Tage später hatte er auf meiner Terrasse gesessen und mich völlig unbeeindruckt angezwinkert. Da war mir aufgegangen, dass er über die Dächer der Stadt streunte und vermutlich mehrere Wahlheimaten besaß.

Heute stattete er also mir einen Besuch ab. Ich drückte einen weiteren Knopf und mit einem leisen Summen öffnete sich die Fensterfront meines Schlafzimmers. Mit erhobenem Schwanz stolzierte Deli in mein Schlafzimmer mit Kingsize-Bett und blickte sich majestätisch um.

„Hallo mein Kleiner“, flüsterte ich.

Deli „Kleiner“ zu nennen war eine bodenlose Untertreibung. Er war riesig und so fett, dass seine Wampe am Boden schliff, wenn er lief. Trotzdem erwies er sich als erstaunlich beweglich: Mit einem Satz sprang er aufs Bett.

„Komm. Komm her!“, lockte ich.

Ich drapierte ein Kissen auf meinen Schoß und klopfte sanft darauf, um ihm seinen Platz vorzugeben. Er drehte den Kopf zur Seite und ignorierte mich.

Ich schluckte.

Niemand war für mich da, wenn ich ihn brauchte.

Die Narbe sendete einen bohrenden Schmerz aus und ich dachte wieder an meine Mutter.

Die hatte kein Wort über meinen Krankenhausaufenthalt verloren und sich immer seltener gemeldet. Bald hatte sie sogar meine Geburtstage vergessen.

Geburtstage!

Mein zwölfter war zum schlimmsten meines Lebens geraten.

In jenem Jahr war ich von der Grundschule in die Oberstufe gewechselt. Die neue Schule hatte im feinen Charlottenburger Nobelviertel gelegen und ich musste jeden Tag anderthalb Stunden mit Bus und U-Bahn herumkurven, um sie zu erreichen. Ich hätte auch eine Gesamtschule in meinem Wohnbezirk am äußersten Rand von Neukölln besuchen können, wollte jedoch die Privatschule, weil sie speziell auf Musik ausgerichtet war. Obwohl mein Vater meinen Wunsch mit „Kokolores, Musik ist was für Traumtänzer!“ kommentierte, bewarb ich mich heimlich und ergatterte ein Stipendium für außerordentlich musikalisch Begabte.

Meine neuen Klassenkameraden trugen abenteuerliche Namen wie „Laurent-Wilhelm“ und „Freifrau Kyra von Grotingen“ und wurden nach der Schule zum Cello-, Ballett- oder Aikido-Unterricht kutschiert, während ich mir zuhause Essen aus der Dose aufwärmte. Dass ich musikalisch talentierter war als alle zusammen interessierte niemanden, stattdessen erkundigten meine Mitschüler sich nach dem Label meiner Klamotten und welchem Beruf meine Eltern nachgingen. Meinen Vater, einen einfachen Sparkassen-Angestellten, machte ich zum Bankier; bei meiner Mutter musste ich mir etwas einfallen lassen und zeigte stolz eine Postkarte herum – die einzige, die sie mir jemals geschrieben hatte, von einem Kurztrip nach London. Sie sei Engländerin, ständig auf Geschäftsreisen und würde mich aus den exotischsten Ländern der Welt anrufen und ihr bewegtes Leben mit mir teilen. Meine Schulkameraden nickten verständig, das kannten sie von ihren eigenen Eltern. So mogelte ich mich in ihren elitären Kreis und wurde damit belohnt, dass sie mich zu ihren Geburtstagsfeiern einluden: fröhlich bunte Feste in gepflegten Stadtvilla-Gärten mit aufblasbaren Hüpfburgen, perfekt organisierten Schnitzeljagden und prall mit der besten Lindt-Schokolade gefüllten Mitgebsel-Tüten für jeden kleinen Partygast.

Als mein Geburtstag näher rückte, wurde ich unruhig. Was konnte ich meinen neuen Freunden bieten? Sie zu mir nach Hause einladen, war ausgeschlossen. Ich lebte in einer winzigen Wohnung der trostlosen Plattenbauten von Gropiusstadt, mein Spielzeug stammte vom Flohmarkt und Schokolade gab es bei uns von der Marke „Gut&Günstig“.

Ich war verzweifelt.

Doch schließlich kam mir eine Idee.

An meinem Geburtstag schwänzte ich die Schule und während mein Vater sich am Bankschalter durch den Tag langweilte, verbrachte ich jenen allein in unserer Zwei-Quadratmeter-Küche und buk Kuchen. Es war ein einfacher Zitronenblechkuchen aus billigsten Zutaten, die ich von meinem bescheidenen Lohn als Babysitterin erstanden hatte. Das erste Blech verbrannte, die zwei folgenden gelangen zum Glück ganz gut. Meine Kreation garnierte ich mit buntem Zuckerguss und versteckte sie unter meinem Bett.

Am nächsten Morgen saß ich im Bus und balancierte zwei in Aluminiumfolie gewickelte Kuchenbleche auf meinem Schoß. In meinem Klassenzimmer angekommen, platzierte ich sie auf dem breiten Fensterbrett und verkündete fröhlich: „Hey Leute, ich hatte gestern Geburtstag. Party fiel aus, denn meine Mutter ist extra aus London hergeflogen und hat mich zu einem Ausflug abgeholt!“

Unbeeindruckte Mienen meiner Klassenkameraden. Standard für sie.

„Aber“, eröffnete ich und strahlte, „meine Mum hat Kuchen mitgebracht!“

Ich fummelte aufgeregt die Aluminiumfolie von den Blechen. Meine Mitschüler drängten sich um mich.

„Zitrone“, kündigte ich freudig an, „den hat sie extra für mich gebacken. Alles selber gemacht! Wer will ein Stück?“

„Ich, ich!“, klang es aus mich umringenden lächelnden Mündern.

Nur ein Mund lächelte nicht.

Maximilian drängte sich nach vorn, begutachtete meinen Kuchen und hakte nach: „Hat das deine Mutter geschrieben?“

Ich nickte stolz.

Er studierte das Backwerk, zog die Augenbraue schief und prustete los: „Hahaha. Ist die Analphabetin, oder was?“

Alle schauten mich an. Ich schaute auf die Backbleche. Dann erkannte ich es.

Auf den einen Kuchen hatte ich „Happy birthday my little girl“ und auf den anderen „I love you“ schreiben wollen. Doch mein holpriges Schulenglisch hatte in beide Sätze dicke Rechtschreibfehler eingebaut.

Meine Schulkameraden begannen zu kichern.

Ich hatte gespürt, wie meine Stirn und Wangen anfingen zu brennen, und war gleichzeitig unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Ein einziges, übermächtiges Gefühl hatte mir die Kehle zugedrückt: unendliche Scham.

Die ließ erneut meine Glieder erstarren, als ich nun in meinem Bett saß und an dieses Ereignis zurückdachte. Ich schlug die Augen auf und wollte mich räuspern, brachte jedoch lediglich ein stumpfes Piepsen hervor.

Offenbar verstand Deli dies als ernst zu nehmenden Hilferuf: Er kletterte auf meinen Schoß und stupste zärtlich sein Köpfchen gegen meinen Arm. Ganz vorsichtig, um ihn bloß nicht zu verscheuchen, streichelte ich seinen Nacken und dachte wieder an den Moment in der Schulklasse.

Steif wie ein Brett hatte ich dagestanden, mit heißem Gesicht, und riesigem Kloß in der Kehle.

„Oder ist deine Mutter gar keine Engländerin?“, hatte Maximilian gerufen, so laut, dass jeder in der Klasse es gehört haben musste.

Er hatte gelacht. Andere ebenfalls.

Irgendjemand hatte geflüstert: „Heulsuse!“

Ich hatte hilflos dagestanden und gespürt, wie mir die Tränen über die brennenden Wangen liefen.

Genau wie jetzt.

Ich lehnte am Kopf meines Bettes und blickte auf Delis rotes Fell hinab. Plopp. Ein Tropfen landete auf seinem Rücken. Er zuckte zusammen und drehte den Kopf zu mir, dabei zog er eine Lefze hoch. Eine weitere stumme Träne bahnte sich ihren Weg über meine Wange und landete auf seinem Fell. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf und raste davon, in die entgegengesetzte Ecke meines Schlafzimmers. Dort ließ er sich schlagartig auf den Boden fallen, verdrehte den Kopf und leckte hektisch die von mir besudelte Stelle auf seinem Rücken. Anschließend stierte er mit riesigen, tiefschwarzen Pupillen empört zu mir herüber.

Sogar Deli tat es der Welt gleich und verachtete Tränen.

Ich hob das Kissen von meinem Schoß und wischte mir damit über die Augen. Dann schleuderte ich es gegen die Fensterfront und rollte mich auf die Seite.

Der Radiowecker zeigte zwanzig nach sieben. Das Taxi ins Fernsehstudio sollte mich um 11:30 Uhr abholen. In vier Stunden musste ich wieder funktionieren.

Moment mal: vier Stunden? Das war eine Menge Zeit. Genug Zeit, um mich dem zu widmen, was ich ursprünglich für dieses Wochenende geplant hatte, mal abgesehen von dem Treffen mit Ian.

Sofort besserte sich meine Laune. Ja! Genug Zeit, das zu tun, was ich über alles in meinem Leben liebte. Vier ganze Stunden für meine geheime Passion, von der keine Menschenseele jemals erfahren durfte.

Ich riss die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett.

Schnellen Schrittes federte ich in mein Ankleidezimmer und blieb vor der verspiegelten Schrankwand stehen. Mein dünnes Haar hing fad und glanzlos bis zum Kinn. Ich musste dringend zum Friseur, fand dafür jedoch ebenso wenig Zeit, wie mich sportlich zu betätigen. Ich drehte mich seitlich. Langsam sah man mir das an: Es zeichnete sich ein winziges Bäuchlein ab. Zum Glück war es bisher der einzige Körperteil, an dem ich Fett ansetzte, und die Stelle ließ sich mit einem weiten Oberteil leicht kaschieren. Ich öffnete den Kleiderschrank und ergriff einen ollen Jogginganzug.

Hineingeschlüpft, schnell Frühstück und es konnte losgehen!

Ich hastete in das riesige Wohnzimmer mit offener Küche und stolperte dabei beinahe über eins von Delis Spielzeugen. Diese übersäten meine ganze Wohnung, denn ich brachte ihm von jeder Geschäftsreise etwas mit. Er besaß kleine Sisalbälle aus New York, zottelige Mäuse aus Hong Kong und eine handgefertigte mit bunten Spiralen gefüllte Holzbox aus Schweden. Das Ding, welches mich gerade fast in die Horizontale befördert hatte, war ein völlig überdimensioniertes Gummihuhn. Ich hatte online versehentlich die Version für große Hunde bestellt und der Plastikvogel wurde zu meinem Betrüben konsequent von Deli ignoriert.

Mein Küchentresen sah ebenso zugestellt aus wie mein Fußboden: Hier drängten sich Plastikkübel, in denen ich Katzengras züchtete. Natürlich eine ganz besondere Sorte, bei der die Halme weich und abgerundet wuchsen, um Delis empfindliches Schnäuzchen zu schonen.

„Was soll dieses alles?“, klagte meine Putzfrau Alma regelmäßig. „Die Katze hat sie mehr Spielzeug wie meine Kinder und gehört sie nicht einmal dir!“

Bei solcherlei Kommentaren lächelte ich bloß.

Ich wusste: Wenn ich mich einfach weiter ins Zeug legte, würde Deli schon bald meinen nachbarlichen Konkurrenten den Rücken kehren und für immer bei mir einziehen.

Ich servierte ihm sein Frühstück, dann durchwühlte ich mein Küchenregal nach etwas Essbarem für mich. Ich hatte mal wieder vergessen Lebensmittel zu bestellen, fand aber einen trockenen Kanten Brot. Ich schmierte eine dicke Schicht Butter direkt auf den Brotknust und biss hinein. Kauend füllte ich die Kaffeemaschine mit frischem Wasser und schaltete den TV-Flatscreen ein: Wiederholungen von Adam sucht Eva, Bauer sucht Frau und Gehirn sucht Zelle. Von RTL 2 im Sozialamt gecastete Strauchdiebe beschwerten sich gerade darüber, dass Deutschland ihnen ebenso viel bot wie sie Deutschland – nämlich rein gar nichts.

Aus das Ding.

Der letzte Tropfen honigfarbener Crema lief durch den Siebträger meiner Kaffeemaschine, Tasse gepackt und ab zu einem monströsen Regal. Dies reichte vom Boden bis zur Decke, maß bestimmt sieben Meter in der Breite und brachte meine Putzfrau zum Verzweifeln. Es beherbergte nämlich meine Platten-Sammlung, selbstverständlich aus Vinyl – da war ich oldschool.

„Wieso das?“, hatte Alma einmal geseufzt. „Mein Enkeltochter kopiert alles diese Musik auf Handy und spare ich mir abstauben!“

„Ja“, hatte ich geantwortet, „aber erstens klingt Vinyl viel besser als diese schrottigen MP3s und zweitens mag ich es, wenn ich was in der Hand habe.“

Alma hatte ein verständnisloses Gesicht aufgesetzt. „Wieso? Handy hast du auch in der Hand.“

Alma hatte einfach keine Ahnung.

In meiner Branche war ein wichtiges Indiz für Ahnung, wenn man Musik „Platten“ nannte, selbst wenn es sich um CDs oder digitale Streams handelte. Damit brachte man zum Ausdruck, dass man sich bereits so lange mit der Materie befasste, dass man die Zeiten der analogen Tonträger selbst miterlebt hatte. Allerdings versauten die Hipster einem neuerdings diese letzte Chance, sich vom Streaming-Proletariat abzuheben, indem sie urplötzlich die lange Zeit tot gesagten Plattenläden stürmten und Vinyl kauften, was nämlich wieder todschick geworden war.

Behutsam schob ich einige Scheiben zur Seite. Auch sie waren nach Werken geordnet und ich hatte die Gesichter der Interpreten aus dem Artwork geschnitten. Ein in die Wand eingelassenes Code-Pad kam zum Vorschein. Falls Alma es kannte, dachte sie garantiert, dass es einen Tresor öffnete. Es sicherte tatsächlich ein geheimes Versteck, aber dies barg weitaus größere Kostbarkeiten als einfallsloses Gold oder langweilige Scheine.

Jedenfalls für mich.

Ich tippte den Code ein. Lautlos glitt ein Teil des Regals zur Seite und mit einem leisen Klicken öffnete sich eine dahinter versteckte Tür. Das Tor zu meinem verborgenen Hobby-Spielplatz, welcher dreimal so groß ausfiel wie mein Wohnzimmer.

„Ohne Fenster“, hatte ich den Architekten bei der Planung instruiert, „der Space braucht eine elektrische Lüftung und das Wichtigste: Es muss absolut schalldicht sein!“

Schließlich musste ich vor den Nachbarn verbergen, was ich hier trieb.

„Okay“, hatte er gemeint, „Sie wollen einen Panikraum, ja?“

„So in etwa.“

Ich betätigte einen Schalter.

Indirektes Licht flammte auf, beleuchtete den weichen Teppich sowie die mit Stoff bezogenen Wand-Panels, eine Seite hing voll mit Diffusoren, eine andere war mit goldenen Schallplatten tapeziert. Überall türmte sich Equipment: Equalizer, Kompressoren, High-End-Wandler und Vintage-Preamps, dazwischen drängten sich Synthesizer. In einer Ecke ein altes Theremin, daneben Racks voll mit Modularsystemen.

Das Zentrum des Raumes bildete ein maßgefertigter Mahagoni-Tisch, mittig eine Pro Tools Avid S6 vor einem 32-Zoll-Screen zwischen in die Wand eingelassenen Monitorboxen. Zu beiden Seiten eingerackt eine Flotte von Lexicon-Hall-Effekten, mehrere Eventide-Maschinen und ein Roland Space Echo.

Genau dahinter gab ein großes Fenster den Blick frei auf eine riesige Aufnahmekabine mit Schlagzeug, Gitarren, Bässen, einem Opus 102 sowie einer Sammlung von Mikrofonen, darunter das echte U67, mit dem Nirvana „Nevermind“ recorded hatten, und das originale C800G, das Drake zu seiner ersten Nummer eins verholfen hatte.

Ich atmete tief ein und spürte, wie die Luft bis in meinen Bauch strömte, die Bedrückung des Morgens von mir abfiel und meine Lunge wieder frei wurde. Ich fühlte mich leicht und weich, denn vor mir lag mein Herzblut, das Spaceship, mit dem ich dieser Realität entflog: mein ganz privates Tonstudio.

Mit geübten Schritten überwand ich die am Boden liegende Kabelage, glitt entspannt in den großen Ledersessel vor dem Mahagonitisch und stellte meine Kaffeetasse behutsam auf den dafür vorgesehenen Untersetzer.

Seitwärts gerollt und schon befand ich mich direkt vor meinem liebsten Schatz: meiner Vintage Neve BCM mit sechs 1073er und vier 1084er handverdrahteten EQ-Preamps. Kein Channelstrip, kein Mikrofonverstärker konnte dieser harmonischen Sättigung das Wasser reichen und jeder Kanal entfaltete seinen eigenen Charakter. Ehrfurchtsvoll strich mein Finger über eine Signatur: Rupert Neve.

Ich war extra nach Texas geflogen, um den Moment zu zelebrieren, als die analoge Konsole im Sugar Hill Recordings Studio verpackt wurde, um zu mir nach Deutschland verschifft zu werden. Und fiel aus allen Wolken, als ich im Studio unerwartet auf das Mastermind höchstpersönlich stieß. Meine Stimme hatte gezittert vor Aufregung, als ich ihn um sein Autogramm gebeten hatte. Derart gesegnet versprühte das Pult für mich pure Magie und ich hatte es liebevoll „Rupi“ getauft. Ausnahmslos alle Stereo-Stems jagte ich final durch dieses Herzstück meines Studios und von dort aus auf meine Zwei-Zoll-Studer.

Während der Producer-Trend heute Richtung Downsizing zeigt – Billie Eilish recordete ihr Album im Schlafzimmer und Bushido rappte im Hotel-Kleiderschrank –, heißt es bei mir nämlich: das Feinste, was geht.

Wann immer mir gelingt, Zeit freizuschaufeln, sitze ich hier auf meinem weichen Sessel aus abgewetztem Leder und lebe meinen Jugendtraum, den ich leider mit niemandem teilen kann.

Schon als kleines Mädchen hatte ich genau gewusst, was ich werden wollte: Pop-Musik-Produzentin. Nachdem ich realisiert hatte, dass meine Musikschule ausschließlich Klassik unterrichtete und populäre Musik dort als ordinär galt, hatte ich mit sechzehn alles auf eine Karte gesetzt und die Schule ohne Wissen meines Vaters abgebrochen, um meinen Traumjob zu starten. Inzwischen für Frauen ein ganz normaler Beruf, selbst wenn ihn weiterhin wenige wählen. Aber damals, zu meiner Zeit? Mit Brüsten keine Chance.

Ich gaukelte meinem Vater vor, zur Schule zu gehen, stattdessen klopfte ich mit meinen Titeln bei Verlagen oder Tonstudios an. Allgemeiner Tenor: „Süße sechzehn bist du, Kleine? Na lass die Songs mal schön uns schreiben. Du siehst ja ganz schnuckelig aus und hast gute Tittchen, kannst du singen?“

Konnte ich nicht und wollte ich nicht. Die Bühne war mir schnuppe, ich wollte hinter die Kulissen. Mir ging es um Kunst.

So tingelte ich von Pontius zu Pilatus. Ich bekam zweideutige Angebote, man könne eventuell etwas für mich tun, wenn man sich vorher erst einmal privat treffen würde, oder die Tür vor der Nase zugeschlagen. Viele Türen.

Entmutigt kratzte ich mein vom Babysitten gespartes Taschengeld zusammen, um einen letzten Schwung Demotapes zu verschicken – und konnte nach einigen Wochen ohne nennenswerte Rückmeldungen mein Glück kaum fassen: Trevor Horn lud mich zu sich ein, er wollte mehr hören!

Der englische Ausnahmeproduzent sammelte goldene Schallplatten wie andere Leute Nippes und zeichnete zu dem Zeitpunkt fast ein Dutzend Titel in den Charts. Über mir schleierhafte Umstände musste mein Demo zu ihm gelangt sein und er hatte tatsächlich Interesse bekundet!

Noch am selben Tag packte ich meine neuesten Tracks ein und trampte nach Oxfordshire.

Ich fühlte mich winzig, als ich endlich auf der satten grünen Wiese vor dem mittelalterlichen Anwesen stand: Gebaut aus braunen Ziegeln und dunklem Fachwerk erhob es sich majestätisch in einen eisblauen Himmel. 

Im hauseigenen Tonstudio angekommen, fiel mir mein neues Demo bei dem Versuch, es Horn zu übergeben, ganze zweimal aus den schweißnassen Händen.

Der Producer pfiff durch die Zähne, nachdem die letzten Töne meines ersten Tracks verklungen waren, und fragte ungläubig: „Das hast du ganz allein produziert?“

Meine Zusicherung per gebrochenem Schulenglisch. Mit geschlossenen Augen und wippendem Fuß hörte er alle meine Stücke durch.

Zum Schluss urteilte er: „This shit is awesome. Really. mal was ganz anderes. Aber…“, er zog mein Tape aus dem Rekorder, drückte es mir in die Hand und schloss: „Nichts für den Mainstream. Absolut unverkäuflich. Verstehst du?“

Ich verstand.

Gebrochenen Herzens begrub ich meinen größten Traum, einmal einen Nummer-eins-Hit zu schreiben und eine goldene Schallplatte an die Wand zu hängen, auf der mein Produzentinnen-Name stand. Mein Geständnis, die Schule abgebrochen zu haben, quittierte mein Vater mit der Ansicht, ein Hauptschulabschluss sei völlig ausreichend, eine handfeste Ausbildung eh besser und wenn ich etwas Kreatives machen wolle, solle ich Floristin oder Schaufenster-Dekorateurin lernen. Ich hielt an der Musik fest und landete als Auszubildende bei Mondial Music. Dort avancierte ich bald zur Junior Promoterin, erlangte mehr und mehr Einfluss und stieg schließlich in die A&R-Abteilung auf, dem Mekka für Musikliebhaber und -kenner: Hier wurde die gesamte künstlerische Ausrichtung des Labels entschieden. Ich frönte tags wie nachts dem Durchhören von Demos, um neue Talente zu finden, und nachdem Oberchef Holtkamp mich vor versammelter Mannschaft „Trüffelschwein“ getauft hatte (Hannes betitelte er als „Bluthund“), betraute man mich mit der Auswahl neuer Musiktitel für etablierte Künstler.

Dies führte ganz wie von selbst zu einer Situation, die ich niemals vergessen werde: Ich saß mit Ayka, einer Elektro-Pop-Künstlerin, im Meetingraum und spielte ihr potentielle neue Singles vor. Drei Tracks hatte ich selektiert, und zum allerersten Mal war einer von mir selbst dabei. Mit schweißnassen Händen und zittrigen Fingern hatte ich den Play-Button gedrückt und mich kaum getraut Ayka anzusehen, während schnelle Break-Beats aus der Anlage dröhnten und meine von einem Filter verzerrte Stimme die Gesangsspur skizzierte. Ich war zutiefst aufgeregt, zum einen in Erwartung ihres Urteils, zum anderen weil ich das Gefühl hatte, etwas Verbotenes zu tun. Über ein halbes Jahr hatte ich gebraucht, um diesen Schritt zu wagen, und es mich nur getraut, weil Ayka und ich eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatten. In meinem Magen explodierten tausend Schmetterlinge, als sie zielstrebig ihr Urteil fällte und die Nummer drei auswählte. Meinen Song!

Die Single floppte in den Charts, entfachte jedoch eine für Aykas Image überaus förderliche Lawine kredibler Musikpresse und in mir den Mut, weiterzumachen. Anfangs ging ich zaghaft und ängstlich vor, immer in dem Konflikt, etwas Unrechtes zu tun, bis ich entdeckte, dass ich bei weitem nicht die einzige verkappte Musikerin in der Branche war. Einige Kollegen buchten sich selbst als DJ bei der großen Label-Tagung, andere versuchten getarnt als Kreativberater ihre eigenen Ideen zu verwirklichen. Ich hielt meine Passion geheim und griff in die Trickkiste „eigene Songs unterschmuggeln“, die mit der Zeit zu meinem ganz normalen Repertoire avancierte. So kam es, dass bereits Udo Lindenberg, Cassandra Steen oder Helene Fischer meine Titel gesungen hatten.

Dass mein Name jemals in einem Booklet erschien, war ausgeschlossen. Um meine Urheberschaft zu verschleiern, erschuf ich über die Jahre den Musikproduzenten und Songwriter Ayn Niflaer, einen publikumsscheuen, ja fast schon autistischen Einsiedler, der zurückgezogen im Berliner Umland lebt und einzig und allein mit mir kommuniziert.

Regelmäßig spielte ich seine neuesten Songideen in unseren A&R-Sitzungen vor. Wenn wir einen seiner Tracks für einen Künstler auswählten, sang der die Gesangsspur in irgendeinem Tonstudio ein und Ayn Niflaer alias ich schraubte Gesang und Musik später allein zusammen. Total übliches Vorgehen, das keinerlei Aufsehen erregte.

So war ich tagsüber die Plattenbossin und nachts die geheime Musikproduzentin.

Vielleicht besser so, denn leider blieb mein innigst ersehnter Nummer-eins-Hit aus. Nicht eine meiner Produktionen hatte je einen Preis abgeräumt. Trotzdem freute ich mich jedes Mal wie ein kleines Mädchen, wenn ich den Namen meines Alter Ego in einem Booklet entdeckte, und hatte eine Wand meines Studios mit eben diesen tapeziert.

Was die goldenen Schallplatten betraf, die ich mir von ganzem Herzen wünschte, hatte ich einfach selbst ein bisschen nachgeholfen: Für jede „meiner“ Single-Auskopplungen hatte ich nämlich eine anfertigen lassen. Natürlich mit meinem echten Namen.

Finnya Staiger.

Den trug ich seit meiner Geburt. Und im Gegensatz zu meinen alten Schulkameradinnen, die heirateten und ihre Mädchennamen ablegten oder gegen lustige Doppelnamen eintauschten, würde ich ihn höchstwahrscheinlich behalten.

Ich dachte an Ian und sofort fiel es mir schwer zu atmen.

Schnell Protools starten und los ging es! Ich zog mein Master-Keyboard aus dem Seitenteil meines Tisches, schloss die Augen und spürte in meinen Brustkorb, in dieses Gefühl der Enge, das mir den Atem nahm. Wie war es? Wie klang es? Langsam drückte ich ein paar Tasten, lauschte auf die Töne, spielte eine Melodie, veränderte sie wieder. Nahm einen beißenden metallischen Ton dazu.

Ja, so klang es. Genauso fühlte sich das an.

Meine Finger glitten über die Tasten, die Augen hielt ich geschlossen, öffnete sie vereinzelt, um eine neue Spur anzulegen oder ein digitales Instrument zu wechseln.

Ich spielte Ian, ich spielte mich, ich spielte uns. Ein betonschwerer Wall in mir brach zusammen, dahinter wartete eine Starre, eine Bewegungslosigkeit, tiefer darunter wurde es ganz zart, ganz zerbrechlich, irgendwie roh und nackt.

Außen glitt ich über die Tasten, innen durch Schichten meines Selbst. Dabei liefen mir die Tränen über die Wangen, was ich kaum bemerkte, denn es geschah, was jedes Mal geschah, wenn ich musizierte: nachdem mein Selbst durchtaucht war, verschwand ich einfach. Ich trat irgendwie zur Seite und ließ etwas anderes durch mich hindurch fließen, das sich wie von allein seinen Weg bahnte, herausbrach, sich aufbäumte und wieder zusammenzog, sich mit jedem neuen Klang, mit jedem neuen Fragment veränderte.

Ich dachte an Hannes und fügte dem neu entstehenden Song eine knallharte Kick-Drum und eine wütende, weit geöffnete Hi-Hat hinzu. Doch das reichte nicht aus, ab in die Aufnahmekabine, wo ich auf das Schlagzeug eindrosch.

Mein Gott, tat das gut! Ich merkte, wie das Leben durch mich hindurchfloss, spürte mich selbst, meine Inneres und dass es unter all diesen schmerzenden Gefühlen eine Mitte gab, die ganz ruhig war, ganz klar.

Ich spielte eine Basslinie ein. Die hatte Kraft, Druck, sie saß hinter allen anderen Spuren und ließ ihre Tonfolge völlig unbeeindruckt erklingen, ließ sich nicht kleinkriegen.

Ich schnappte mir ein SM7 und sang eine Vocal-Linie ein, die in diesem frühen Stadium hauptsächlich aus Fantasie-Worten bestand. Bald würde ich einen richtigen Songtext dazu schreiben.

Zurück im Regieraum kritzelte ich ein paar Notizen auf einen Zettel, etwas über diesen Moment und meine dazugehörenden Gefühle. Das tat ich mit allen meinen Songs.

Dann schoss ich die neue Idee in die Cloud, um sie unterwegs anhören zu können. Der finale Mix würde irgendwann auf meiner Studer landen, das Tonband in einem extra dafür gebauten Raum. Ich schwor auf Musik, die ich in der Hand halten konnte, etwas Anfassbares, etwas Wirkliches, jedes Band eine Erinnerung an einen echten, lebendigen Augenblick.

Langer Ausatmer, ich fühlte mich friedlich und frei. Der Blick auf die Uhr offenbarte: eine Stunde war vergangen – sie war mir wie fünf Minuten vorgekommen.

Ich dehnte meinen Rücken.

Deli hatte seine Lieblingsposition in der hinteren Zimmerecke eingenommen. Dort hatte ich ihm eine von der Decke hängende Kuschel-Höhle einbauen lassen, schallgedämpft versteht sich, schließlich sollte er ungestört schlummern können.

Was nun? Einen weiteren Song starten?

Nein, lieber ein bisschen an etwas Älterem feilen. Ich hatte gerade ein anderes Projekt geöffnet, als mein Handy klingelte. Das Display kündigte Reini an.

„Ja?“

„Icke bin’s. Sag mal, ist Tom Ji bei dir?“

„Wieso?“

„Ick steh hier mit Bens Freundin im Hotel, wir sind seit ’ner halben Stunde zum Shoppen verabredet. Ben glänzt durch Abwesenheit, die Kleene ist wie vom Erdboden verschluckt. Beide Handys aus, Hotelzimmer leer. Noah behauptet, sie war die ganze Nacht über weg.“

„Nein, keine Ahnung.“

„Ditt Zimmer liegt in Schutt und Asche.“

„Wie bitte?“ Ich stoppte den Sound. „Ich habe diesem Möchtegern-Rocker schon beim letzten Mal angekündigt, dass wir seine Tobsuchtsanfälle nicht mehr bezahlen!“

Wut stieg in mir auf.

„Noah sagt, ditt war schon so, als er ins Hotel zurück ist – muss wohl Tom Ji gewesen sein.“

„Blödsinn!“, schnauzte ich. „Die heult doch schon, wenn ihr ein Fingernagel abbricht. Ich hab die Nase voll davon, dass mir meine Forecasts auseinanderfliegen, weil diese Karnickel-Visage denkt, er ist Keith Moon!“

Der „The Who“-Schlagzeuger galt als größter Rüpel der Musikgeschichte und gefürchteter Gegner jeder Hotelzimmer-Einrichtung.

„Dein Budget ist mir schnurzpiepe“, flapste Reini zurück, „ick will wissen, wo die Kleene steckt!“

„Das letzte Mal hab ich sie gestern vor dem Restaurant gesehen, bevor ich nach Hause bin. Was soll die denn bei mir?“

Das fehlte gerade noch, dass Künstler mich in meinen eigenen vier Wänden heimsuchen und mir das letzte bisschen Privatleben nehmen.

„Ick …“, setzte Reini an.

Da erklang Noahs quengelige Stimme im Hintergrund.

„Was quatscht der Vollidiot da?“, wollte ich wissen.

Reini zischte: „Der steht hier mal wieder mit gepackten Koffern und will stiften gehen.“

Noah jaulte auf: „Nein, es reicht! Diesmal reise ich doppel-safe ab, das war Real-Talk gestern, ich bin fertig mit Tom Ji!“

Von mir aus sollte der zum Mond fahren, gern ohne Sauerstoffflasche.

„Also bei mir ist sie nicht“, wiederholte ich. „Ihr wart doch zuletzt mit ihr zusammen!“

Musik wieder an – ich hatte Besseres zu tun, als den Babysitter für Hannes’ Pubertäts-Zoo zu spielen. Das war Reinis Job.

Der legte einfach auf.

Ich schüttelte den Kopf, stellte mein Telefon lautlos und drehte die Boxen bis zum Anschlag, da flammte eine grellrote Lichtsirene in der Ecke des Raumes auf. Überrascht starrte ich sie an. Das Licht bedeutete, dass gerade jemand an meiner Tür klingelte. Und zwar oben, an der Wohnungstür. Unten war blau.

War das etwa Tom Ji? Woher kannte die meine Adresse? Oder wollte Reini mir jetzt in persona auf die Nerven gehen? Was für ein beschissenes Wochenende!

Erbost schnappte ich mein Handy, ließ meine Geheimtür zufahren und stapfte an die Tür.

„Was ist los?“, bellte ich in den Hausflur.

„Habe ich Brief für dich.“

Auf der Türschwelle stand Mauro, der Hausmeister, und kaute. In einer Hand hielt er einen Döner, in der anderen einen Briefumschlag.

„Und das hier lass mal, ja?“, er deutete auf die Mülltüten, die ich in den Hausflur geschmissen hatte.

„Der Müllschlucker ist kaputt!“ Das erzählte ich dem schon seit Wochen und bekam jedes Mal ein ignorantes Schulterzucken zurück.

„Heute Wochenende und spielt Fußball.“

Ich knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Dann betrachtete ich den Brief. Ein unscheinbarer weißer Umschlag, federleicht. Ich wendete ihn. Er trug weder eine Anschrift noch einen Absender. Lediglich einen gelblichen Fleck, vermutlich Knoblauchsauce. Ich riss ihn auf, zog das einzige Blatt heraus und las.

Eine Minute später rannte ich barfuß durch den Hausflur und schrie: „Mauro!“

Ich erkannte seinen Blaumann hinter der sich gerade schließenden Fahrstuhltür.

„Halt!“ Ich stürzte vor und warf meinen Arm zwischen die Schiebetür. Die blockierte eine Sekunde, um sich gleich wieder zu öffnen. Der Hausmeister kaute seelenruhig weiter.

„Wo hast du den her?“, brüllte ich.

„Von Achmet unten.“

„Nein verdammt, nicht den Döner. Den Brief!“

„Hat gebracht Mann.“

„Wo ist der Mann?“

„Weg.“

„Was weg? Wohin? Und wann?“ Ich packte Mauro an einer Schulter. Er starrte mich mit großen Augen an und faselte mir unverständliches Portugiesisch. So wurde das nichts.

Ich lockerte meinen Griff, klopfte ihm imaginären Staub von der Kutte und zwang mich, langsam zu sprechen: „Wo genau hat dieser Mann dir den Brief übergeben?“

„In mein Kabine!“

Damit war wohl seine Pförtnerloge am Eingang der Wohnanlage gemeint. „Okay, und wann?“

Er kratzte sich die dichten dunklen Locken und schien zu überlegen. „Vor wenig Zeit. Stunde?“

„Also das ist ungefähr eine Stunde her, ja?“

Mauro wiegte den Kopf hin und her. „Na ja … vielleicht zwei Stunde. War Weile bei Achmet. Der hat neue Fleischschneidemaschine: ist Roboter!“

Nickend schob er sich den Rest seines Döners in den Mund. Ich atmete einmal tief ein und wieder aus. Ganz ruhig.

„Gut und jetzt denk nach: Wie sah der Mann aus?“

Seine Personenbeschreibung fiel in etwa so differenziert aus wie seine Zeitangabe. Schwarze Hose, schwarzer Kapuzenpullover, schwarze Sonnenbrille.

„War ich beschäftigt, spielen heute Benfica Lissabon!“ Er schien fast ein wenig empört.

Also hatte er in seinem Kabuff auf den Bildschirm geglotzt und alles andere ignoriert. Ich ersparte uns beiden, nach den Überwachungskameras zu fragen – die waren auch seit Wochen kaputt.

Ich fluchte und ließ ihn stehen. Noch während ich zurück zu meiner offen stehenden Wohnungstür hechtete, tippte ich auf Reinis Kurzwahl.

„Komm sofort her“, keuchte ich, „es ist etwas Entsetzliches passiert!“

Corie Emm Die Plattenbossin Roman